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Prosopagnosie: WennGesichter nicht erkannt werden

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©Bild: Shutterstock/Ann in the uk
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Sie wollen ihr Kind aus dem Kindergarten abholen, erkennen es aber nicht. So geht es Menschen mit Gesichtsblindheit - der sogenannten Prosopagnosie.

Zwei bis drei Prozent der Bevölkerung sind nicht fähig, Menschen anhand ihrer Gesichtszüge zu erkennen. Betroffene können sich selbst das Gesicht des eigenen Kindes nicht merken. Was steckt dahinter? News hat bei dem Mediziner Dr. Thomas Grüter nachgefragt. Gemeinsam mit seiner Frau Dr. Martina Grüter forscht er zu dem Thema und betreibt die Website www.prosopagnosie.de

Was versteht man unter Prosopagnosie?

Prosopagnosie (gesprochen: Prosop-Agnosie) ist ein Kunstwort, das sich aus den beiden altgriechischen Worten Prosopon (das Gesicht) und Agnosia (das Nichterkennen) zusammensetzt. Wer unter dieser Wahrnehmungsstörung leidet, hat große Schwierigkeiten, seine Mitmenschen an ihren Gesichtern zu erkennen. Die Betroffenen sehen Gesichter nicht anders als andere Menschen, sie können auch erkennen, welches Gefühl ein Gesicht ausdrückt, ob es alt oder jung aussieht, einem Mann oder einer Frau gehört. Aber wenn es darum geht, ein Gesicht einer bestimmten Person zuzuordnen, wird es schwierig für sie.

Was sind die Ursachen dafür?

Ähnlich wie bei der Dyslexie, also der Schreibleseschwäche, sind die Ursachen bisher nicht genau bekannt. Im Gehirn von Betroffenen lassen sich keine Defekte nachweisen. Die Windungen und Furchen erscheinen vollständig normal. Wenn man mit bildgebenden Methoden wie der funktionalen Kernspintomographie, nach Unterschieden in der Verarbeitung von Gesichtern sucht, zeigen sich subtile Unterschiede. Bisher haben mehrere Arbeitsgruppen bei ihren Untersuchungen allerdings keine eindeutigen, sicher wiederholbaren Ergebnisse erzielen können.

Wie äußern sich die Symptome?

Die meisten Betroffenen geben an, dass sie sich ein Gesicht einfach nicht merken können. Sie laufen auf der Straße selbst an nahen Verwandten vorbei. Mütter mit Prosopagnosie berichten, dass sie ihren Kindern besonders markante Kleidung anziehen, bevor sie sie im Kindergarten abgeben. Sie erkennen sie dann beim Abholen besser. In Filmen mit ähnlich aussehenden Darstellern tun sich Betroffene manchmal schwer, der Handlung zu folgen. Bei Kindern zeigt sich das Problem schon sehr früh. Sie tun sich im Kindergarten oder in Kita schwer, die anderen Kinder auseinanderzuhalten, und entwickeln manchmal erstaunlich ausgefeilte Strategien dafür.

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 © Shutterstock/ SzemVik

Wie gehen Betroffene mit Prosopagnosie um? Welche Strategien werden entwickelt?

Natürlich ist es extrem peinlich, Gesichter nicht richtig zuordnen zu können. Fast alle Betroffenen orientieren deshalb stark an der Stimme. Darüber hinaus entwickelt jeder Betroffene eigene Strategien. Einer sagte uns beispielsweise, er grüßt auf der Straße jeden, der ihn mehr als eine Sekunde ansieht. Ein anderer achtet bei Männern auf die Schuhe, weil, wie er sagte, die meisten Männer nur jeweils ein Paar für den Sommer und den Winter besitzen. Eine Zahnärztin merkt sich die Zahnstellung ihrer Mitmenschen. Eine Politikerin nimmt bei Veranstaltungen grundsätzlich einen Assistenten mit, der ihr zuflüstert, wer auf sie zukommt. In der Politik reicht es nicht, andere Menschen einfach zu grüßen. Die Herzlichkeit der Begrüßung sendet bereits wichtige Signale. Wenn man also Verstimmungen vermeiden möchte, muss man unbedingt wissen, wen man vor sich hat.

Wie lässt sich Prosopagnosie diagnostizieren?

Es gibt eine Reihe von Gesichtserkennungstests und Fragebögen im Internet, an denen man sich selber testen kann. Sie geben aber lediglich einen ersten Hinweis. Wir halten es für sinnvoll und notwendig, ein längeres diagnostisches Gespräch zu führen, um die Prosopagnosie gegen andere mögliche Wahrnehmungsstörungen, Nervenleiden, psychische Erkrankungen oder Sehstörungen abzugrenzen.

Wie häufig tritt diese Krankheit auf – wer ist besonders betroffen?

In Europa sind ca. 2,5% der Bevölkerung betroffen. Ähnliche Zahlen hat eine Studie in China ergeben. Damit ist diese Wahrnehmungsstörung etwa so häufig wie die Dyslexie. Anders als die Dyslexie ist bei der Prosopagnosie eine familiäre Häufung eindeutig nachgewiesen. Der Erbgang ist, wie Genetiker sagen, autosomal dominant. Männer und Frauen sind gleichermaßen betroffenen, und wenn ein Partner betroffen ist, wird etwa die Hälfte der Kinder ebenfalls eine Prosopagnosie entwickeln. Leider ist es bisher nicht gelungen, den Ort des Gendefekts zu finden, der dem Phänomen zugrunde liegt.

Wie können sich Außenstehende vorstellen, wie ein Mensch mit Prosopagnosie seine Umwelt wahrnimmt?

Am besten stellt man sich vor, man sei als Europäer in einem Land in Asien. Alle Menschen dort sehen vermeintlich gleich aus, man erkennt lediglich, ob sie alt oder jung sind. Natürlich erkennt man sie besser, wenn sie eine markante Narbe im Gesicht tragen, ein Fehlstellung der Zähne haben oder ihre Augenbrauen besonders buschig sind. Aber man würde vermutlich die Reiseleiterin aus dem Bus in der Hotellobby nicht wiedererkennen, wenn sie sich zwischendurch umgezogen hat.

Wie können Angehörige, Freunde von Betroffenen unterstützend agieren?

In vielen Familien gibt es gleich mehrere Betroffene. Angehörige wissen meistens, dass sie ihren Geschwistern, Eltern oder Kindern sagen müssen, wer auf sie zukommt, oder wer gerade einen Raum betritt. Freunde sollten nicht beleidigt sein, wenn Betroffene sie auf der Straße nicht grüßen, sondern sollten einfach auf sich aufmerksam machen. Und bei größeren Veranstaltungen hilft es den Betroffenen, wenn ihnen jemand sagt, wer gerade den Raum betritt, oder wer gerade auf sie zuläuft.

Oft wird Prosopagnosie im Zusammenhang mit Autismus oder Asperger erwähnt, gibt es hier Überschneidungen?

Wir haben mehrere Hundert Menschen mit Prosopagnosie diagnostiziert, und in dieser Gruppe kommt Störungen des autistischen Formnkreises (zu denen auch die Asperger-Ströung gehört) nicht häufiger vor als bei Gesamtbevölkerung. Wir haben also hier keine auffällige Überschneidung feststellen können. Andererseits fällt es Autisten oft schwer, mit anderen Menschen zu interagieren. Sie vermeiden es aktiv, Menschen anzusehen, und lernen deshalb nicht, wie deren Gesichter aussehen. Es ist auch möglich, das bei Kindern mit Prosopagnosie fälschlich eine Aspergerstörung diagnostiziert wird. In Familien, in denen die erbliche Form der Prosopagnosie auftritt, haben wir bisher keine Häufung von autistischen Störungen feststellen können.

Wie wird behandelt? Gibt es Therapieformen?

Wie bei der Dyslexie lässt sich mit viel Übung einiges erreichen. Das Grundproblem wird allerdings nicht verschwinden. Wer unter der angeborenen Form der Prosopagnosie leidet, muss damit leben, dass ihm die Erkennung und Zuordnung von Gesichtern sein ganzen Leben lang schwer fällt. Aber er kann natürlich lernen, andere Erkennungsmethoden heranzuziehen, oder sich ganz bewusst auf bestimmte Merkmale von Gesichtern zu konzentrieren. Natürlich wird das die Betroffenen niemals ganz vor peinlichen Situationen bewahren, aber letztlich hat eigentlich jeder Mensch irgendein Defizit, dass ihn gelegentlich unangemessen reagieren lässt. Nobody ist perfect.

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