Der Sohn wuchs auf, ohne etwas über das große Werk des Vaters zu wissen. Dass Samy Molcho ab den 60er-Jahren als Pantomime die Welt begeistert hat, war im heimeligen Familiensitz in Klosterneuburg kein Thema. "Die Kinder haben mich nie auf der Bühne gesehen. Gott sei Dank", sagt Molcho über jene Zeit, als er für nunmehr legendäre Pantomimen wie "Kain und Abel" oder "Der Prozess" allabendlich 20-minütige Standing Ovations erntete.
Über 2.000 Vorstellungen in 60 Ländern machten den Tanz-und Schauspielstudenten aus Tel Aviv mit mäßigem Talent als Schüler ("ich war Legastheniker, konnte nicht auswendig lernen. Es war furchtbar!") zum weltweit bekanntesten Pantomimen neben Marcel Marceau. Über viele Umwege habe er damals in der Solokunst der Pantomime seine Ausdrucksform gefunden, beschreibt Molcho sein Erfolgsgeheimnis.
Im lichtdurchfluteten, geräumigen Haus erzählen Bilder, Skulpturen, ein Wandteppich und das einzigartige Wandmosaik vom Freund Arik Brauer unauffällig von dieser Zeit. Dem 31-jährigen Nadiv und seinen drei Brüdern Nuriel, 37, Elior, 35, und Ilan, 33, war sie lange fremd.
Samy Molcho wollte es so. "Auf der Bühne bin ich ein anderer Mensch. Das sind zwei Welten. Jede Vorstellung war für mich ein Erleben: Ich war der Baum, ich war der Vogel, den ich dargestellt habe. Danach war ich so erschöpft, dass ich kein Glas halten konnte. Der Kontrast zwischen Künstler und Papa ist zu groß, als dass man diese Welten vereinen könnte", teilt Samy Molcho seine Motive. "Daheim wollte ich nur Vater sein und für die Kinder da sein. "
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Er war knapp 50 Jahre alt, als er seine Tourneen und damit seine Karriere am Höhepunkt beendete. "Kinder sind keine Koffer", sagt er. Fortan unterrichtete er am Max-Reinhardt-Seminar, hielt Seminare und beriet Wirtschafts-und Politikgrößen. Mit seiner Frau, der 19 Jahre jüngeren Haya, ließ er sich in Wien nieder und kehrte nicht einmal an Kindergeburtstagen zu seinem Beruf zurück. Da kamen Mietclowns, und Molcho verließ den Raum, damit sie sich ja nicht beobachtet fühlten.
Nadiv Molcho hört dem Vater gerne zu. An der Art, wie die beiden die Geschichten des anderen ergänzen und manchmal mit Anekdoten ins Wort fallen, kann man die Tiefe ihrer Beziehung ablesen. Seit Nadiv als Schauspieler dieselbe Berufung wie der Vater gewählt hat, begegnen sich die beiden auch als Lehrer und Schüler. Der Sohn berät sich mit dem Vater über seine Rollen, Nuancen im Spiel, Timing, aber auch Grundsätzliches wie Erwartungen und Zukunftsängste.
Es gibt keinen falschen Weg
Nadiv Molcho wusste schon im Alter von zehn Jahren, dass er Schauspieler werden wollte. Damals hatte er in "Uprising" seine erste Filmrolle an der Seite von David Schwimmer, Jon Voight und Donald Sutherland. "Ich war infiziert", sagt Molcho. Und weiter: "Die Eltern haben gesagt: 'Es ist so schön, deine Leidenschaft zu spüren, aber es ist auch wichtig, dass du zur Schule gehst. Wenn du mit 18 noch immer die Schauspielerei wählst, unterstützen wir dich. Moralisch. Finanziell. Aber es muss deine Leidenschaft sein.'"
Die Leidenschaft blieb und führte Nadiv zum Studium nach New York und Los Angeles und zu Rollen in Serien ("Altes Geld", "Freud") oder in dem Film "What Happened to Monday?" mit Willem Dafoe und Glenn Close. Zehn Jahre lang bastelte er akribisch an der Karriere. Mit Beginn der Pandemie vor einem Jahr schien alles zu zerbröseln. Einen Tag nachdem er nach Los Angeles gekommen war, um dort zu bleiben, musste er Auto und Wohnung in den USA verlassen um Corona-bedingt in die Heimat zurückzukehren. Und sich in Wien einer großen Krise zu stellen.
Wenn es um die Schauspielkarriere geht, die Arbeit am Durchbruch - worüber genau reden Sie dann?
Nadiv: Samy ist der Einzige außer wenigen Freunden in L.A., der meine Ängste und Fragen versteht. Je mehr ich als Schauspieler arbeite, umso öfter waren auch Ängste ein Thema. "Wie kann ich es schaffen?", frage ich. Und er gibt mir die Frage zurück: "Was willst du schaffen?"
Samy: Wenn du mit dem, was du machst, eins bist, wirst du Erfolg haben. Und wenn nicht, versuche es anders. Wir haben nicht nur eine Begabung. Es kann sein, dass man sich für etwas anderes entscheidet. Aber nicht, weil etwas nicht klappt, sondern weil man eine andere Bestimmung hat.
Sie meinen etwas aufgeben, aber es nicht als Scheitern begreifen. Wie gelingt das?
Samy: Gibt es einen falschen Weg? Nein. Jeder Weg führt irgendwohin.Wenn du dort nicht mehr hinwillst, such dir einen anderen Weg.
Oft bleibt man auch stehen, aus Angst.
Samy: Angst wovor? Nicht anerkannt zu werden von der Gesellschaft? Das ist kein Scheitern.Eine meiner schönsten Produktionen für die Festwochen hat ebenso viele Bravos wie Buhs bekommen. Das ist nicht angenehm. Aber viel wichtiger ist, sich danach zu fragen: Warum war es so? Glaube ich noch daran? Ja? Dann ist es doch gut.
Nadiv: Man hat immer die Erwartung, perfekt zu sein. Aber ohne Fehler zu machen, kommt man nicht einmal in die Nähe von Perfektion. Ohne Fehler lernt man nichts. Samy: Ein Rezept für Misserfolg kann ichdir geben: allen gefallen zu wollen. Dumusst bereit sein, einem Teil nicht zu. Es ist unmöglich, alle zufriedenzustellen. Das wäre eine langweilige Welt.
Woher kommt der Mut, so zu denken?
Samy: Der kommt, wenn ich bei meiner Wahrheit bin, in dem, was ich tue. Ohnejemandem gefallen zu wollen. Ein Beispiel: In meinen Seminaren rufe ich jemanden nach vorne. Einer denkt: "Was erwarteter von mir?" Ein anderer denkt: "Was sollich machen?" Das ist der Unterschiedzwischen Erfolg oder Scheitern.
Irgendwann wollte er wieder glücklich sein, sagt Nadiv Molcho rückblickend. Erfragte sich, wie er ohne Bühne, ohne Filmeseine Leidenschaft leben könnte. Und fand in einem Stand up Comedy Programm sowie im Podcast "Jokes Aside" erfolgreiche Antworten. "Das hat mir geholfen. Vielleicht auch anderen, denn in meiner Realität war es das Schlimmste, das ich bis jetzt erlebt habe."
Der Vater gab keine Ratschläge durchdie Krise. Man könne nur da sein, sagt Samy Molcho. "Jedes Tun ist Vergewaltigung in so einer Situation. Er musste wissen, dass ich ihn einfach akzeptiere in seinem Schmerz. Ohne Erwartung. Ich bin einfach nur da. Da ist meine Schulter."
Dieser Tage ist Nadiv Molcho unterwegs, zurück in die USA. Er hat den Film "Der weiße Kobold" von "Freud"-Regisseur Marvin Kren abgedreht, die deutsche Hip-Hop-Serie "Almost Fly" für TNT und die ZDF-Comedy-Doku "Heroes". In Los Angeles wartet eine Rolle in einem Netflix-Film.
Die Happy-End-Erzählung aus dem Leben von Vater und Sohn ist beispielhaft für die Grundfesten der Familie Molcho. Offenheit im Reden und Denken. Mut zu Wahrheit und neuen Wegen. Respekt im Miteinander.
All das führte dazu, dass die Eltern den Kindern stets auf Augenhöhe begegneten. Dass Samy auch Gespräche mit Erwachsenen unterbrach, wenn ein Kind etwas brauchte. Dass es nichts gibt, was die Kinder nicht wissen, weil immer alles offen besprochen wurde. Dass die vier Söhne bis in die Pubertät hinein in einem Zimmer schliefen. Dass für eine Autorennbahn auch einmal das ganze Wohnzimmer wochenlang leer geräumt wurde. Dass ein Bruder den anderen bei Albträumen tröstete. Dass auf die Dinge der Eltern aufgepasst wurde. Dass es leicht war, den Bedürfnissen des anderen mit Respekt zu begegnen. "Nie hätte einer ins Handy eines anderen geschaut", sagt Nadiv.
Grenzen erkennen, Krisen lösen
Viele Pfeiler dieser Gedankenwelt macht Samy Molcho in seinem neuen Lebenswerk "Territorium ist überall" klar. Ob es unser Schreibtisch oder unsere Gedankenwelt ist -alles im Leben ist Territorium. Es gibt uns Sicherheit und Identität, sorgt aber auch für Konflikte. Erst wenn man erkennt, worum es geht, lassen sich viele Krisen vermeiden, erklärt Molcho im Buch. Als Beispiel aus erster Hand beschreibt er, wie er selbst nach jeder längeren Geschäftsreise, während der das Leben zu Hause ohne ihn seinen Lauf nahm, zur territorialen Krise wurde:
"Kaum bin ich zu Hause angekommen, renne ich wie von der Tarantel gestochen von einem Zimmer ins andere, mache sinnlos Schubladen auf und zu, ohne etwas Besonderes zu suchen. Danach gehe ich meiner Familie auf die Nerven und meckere, dass gewisse Dinge nicht an ihrem Platz seien. () Ich markiere mein Territorium. Unbewusst ärgert es mich vielleicht, dass der Familienalltag auch ohne mich gut funktioniert." Die Erkenntnis half Molcho, der Familie zu erklären, worum es ging. Er habe sie dann gebeten, einen Tag lang von Zimmer zu Zimmer toben zu können, um zu zeigen, dass er wieder da sei.
Jeder von uns habe das Recht auf sein eigenes Territorium, auf eigene Bedürfnisse, wie Molcho im Gespräch betont. "Wir können einander nicht alle Bedürfnisse erfüllen. Es geht um Leben und Leben lassen. Das haben Haya und ich den Söhnen vorgelebt", beschreibt er seinen Buchgedanken.
Freiheit und Respekt für die Liebe
Als die heute als "Lichtgestalt der Szene" gefeierte Gastronomin Haya Molcho mit dem 19 Jahre älteren Ehemann nach Wien zog, bedeutete das für Samy Molcho, sie zu ermutigen, sich ihre eigenen Freunde, ihre eigene Lebenswelt zu suchen. "'Du willst mich loswerden!', hat sie gesagt", erzählt Molcho. "Nein, ich will dich gewinnen. Wenn du auf eigenen Beinen stehst, ist jeder Tag, an dem du mit mir zusammen bist, ein Kompliment", beschreibt er seine Sicht auf Beziehung.
Der offene Umgang mit Bedürfnissen blieb auch in Krisenzeiten Erfolgsgeheimnis der Molchos. Die seit 42 Jahren glückliche Ehe sah Zeiten, in denen nicht alle Bedürfnisse zwischen den Partnern erfüllt werden konnten. Nach vier Kindern verliebte sich Haya Molcho - ohne die Ehe dabei in Frage zu stellen.
Neues Buch In "Territorium ist überall" beschreibt Samy Molcho, wie Territorien uns Sicherheit und Identität geben und unser Verhalten prägen. Das Wissen darüber kann Konflikte verhindern (Ariston)
Was braucht es in einer Ehe, um sich so offen begegnen zu können?
Samy: Freiheit. Die Freiheit, sagen zu können: "Ich baue ein Territorium daneben, das hat aber keinen Einfluss auf das alte."
Das klingt nicht leicht.
Samy: Wer sagt, das muss alles leicht sein? Die Frage ist: Wie stark sind die Bedürfnisse? Willst du frustriert weiterleben, weil du dich in eine andere Richtung entwickelst? Wenn ich mit Haya Gespräche habe, ist das Motto: Verschwenden wir nicht Zeit an das, was uns trennt. Investieren wir die Zeit in das, was uns verbindet.
Nadiv: So habe ich es auch in der Kindheit erlebt: diese zwei starken individuellen Säulen, die ein Haus zusammen tragen.
Was haben Sie von den Eltern über Liebe und Partnerschaft gelernt?
Nadiv: Einander Freiheit und Respekt zu geben. Und die Gefühle des anderen wahrzunehmen. Es gab nie viel Streit, denn wenn Haya sagte: "Das ärgert mich!", hat Samy das immer ernst genommen. Er würde nie sagen: "Ist keine große Sache "Samy: Haya weiß, wenn sie sagt: "Ich brauche dich!", nehme ich den ersten Flug und ich komme. Das heißt aber auch, dass sie zweimal überlegt, ob sie mich wirklich braucht, denn sie weiß: Er kommt. Niemand kann für den anderen entscheiden, was für ihn wichtig ist. Darüber darf man nicht urteilen.
Zum 85. Geburtstag, den Samy Molcho im Mai feiert, ist sein Leben an einem Punkt, an dem seine Frau Haya mit drei Söhnen zwei Neni-Lokale in Wien betreibt, bald ein drittes eröffnet, in acht Städten Filialen hat sowie 30 Produkte an Supermarktketten in Österreich, Deutschland und der Schweiz liefert. Der vierte Sohn, Nadiv, verfolgt die Schauspielkarriere. "Heute gehöre ich nicht mehr zur Welt der Kinder. Ich bin offen und mit meiner Erfahrung für sie da, aber es ist ihre Welt", sagt Molcho.
Das Leben ist dynamisch, haben Sie gesagt. Wie erleben Sie es jetzt gerade?
Samy: "Ich freue mich, dass Haya Erfolg hat. Das ist ein Gewinn. Das muss man sehen, nicht immer nur ich, ich, ich. Natürlich wartet jetzt niemand mehr auf mich zu Hause. Dann mach ich es halt selbst.
Welchen Stellenwert hat Ihr Geburtstag überhaupt?
Samy: Probleme mit dem Alter habe ich nie gehabt. Es gibt eine neue Realität, was die Leistung meines Körpers betrifft. Alles geht langsamer. Aber ich habe kein Problem, um Hilfe zu bitten. Diese Eitelkeit, alles allein zu können, habe ich nie gehabt.
Man hört nie auf, sich zu finden, so eines Ihrer Mottos. Wodurch finden Sie sich?
Samy: Durch Corona fehlen mir meine Seminare, aber ich lerne, mehr allein zu sein, und genieße es. Ohne schlechtes Gewissen zu sagen, ich habe heute nichts gemacht, habe ich mir früher nie gegönnt. Zu sehen, wie die Söhne ihren Weg gehen, ist wie Früchte genießen von einem Baum, den man einmal gepflanzt hat.
Und Nadiv plant auch noch die Verfilmung Ihres Lebens, richtig?
Nadiv: Es geht nicht darum, dass er mein Vater ist. Mich fasziniert dieses Leben voll Höhen und Tiefen, Humor, Liebe und Herzschmerz. Ich weiß, dass das eine tolle Geschichte ist, da mache ich keine Kompromisse.
Samy: Ich habe ihm gesagt: "Mach einen Film, keine Biografie! Erfinde Sachen, wenn der Film es braucht. Es ist dein Film, nicht meiner."
Nadiv: Beim Ausmisten haben wir Hunderte Artikel gefunden. Ein Schatz für mich! Die hat alle sein Manager aufgehoben. Denn das Interessante ist, dass Samy nie in der Vergangenheit gelebt hat.
Samy: Ich lebe im Hier und Jetzt und gern. Ich mochte auch nie Videos von meiner Pantomime, denn das ist nicht dasselbe. Meine Kunstwelt war allein auf der Bühne, im Hier und Jetzt. Das kann und braucht man nicht konservieren. Meine Kunst ist mit mir geboren und mit mir stirbt sie. Du hinterlässt die Erinnerung bei Leuten, die dich erlebt haben. Aus.
Dieser Artikel erschien ursprünglich in der News-Ausgabe Nr.17/21