Der Ruf der Politiker ist am Boden, das Vertrauen in die Politik erschüttert. Wer geht unter diesen Umständen heute noch in die Politik? Wir fragten vier langjährige Politikerinnen und Politiker. Gabriele Heinisch-Hosek, Beate Palfrader, Matthias Strolz und Rudi Anschober sind sich überraschend einig: Politik ist ein toller Beruf - auch wenn sich einiges ändern muss.
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"Würde ich heute als junge Frau wieder vor der Entscheidung stehen, in die Politik zu gehen: Ich würde es wieder tun", sagt Gabriele Heinisch-Hosek, die 1990 als Gemeinderätin in Guntramsdorf begann. Sie war Nationalratsabgeordnete, Sozial- und Gesundheitslandesrätin in Niederösterreich, Bildungs- und Frauenministerin sowie Vorsitzende der SPÖ-Frauen. "Ich wäre genauso on fire wie damals", meint sie, wobei sie aber nicht den jetzt herrschenden Ton in der Politik übernehmen würde. "Früher hatte man mehr Respekt voreinander. Heute sind zwar die Grenzen bei Sexismus strenger gesteckt als in meinen Anfangszeiten - da musste man oft eingreifen -, aber der normale Tonfall, das Niveau und die Hemmschwellen sind viel niedriger als früher. Es gibt einige Kollegen - weniger Kolleginnen -, die unglaublich provokant und in ihrer Wortwahl sehr einfach sind." Der Ton schaukle sich auf, weil jeder um Aufmerksamkeit kämpfe, klagt die Politikerin. "Es gibt manche, die machen es immer noch seriös, aber es auch viele, die pfeifen auf die Seriosität. Doch ich glaube, man kann auch heute noch gute, seriöse Politik machen, wenn man für eine Sache, einen Inhalt oder eine gesellschaftliche Ausrichtung brennt."
"Wir sind ja trotzdem ein Team"
Der Niedergang des Umgangstons begann mit Jörg Haider, meint Heinisch-Hosek. Er habe seine Nachahmer gefunden und "wenn das - auf gut Wienerisch - reingeht, dann macht man weiter und steigert es noch". Mittlerweile würden Politiker aller Parteien bei dieser Entwicklung mitmachen. "Weil ich diesen Ton nicht übernehmen kann und will, wäre ich, würde ich heute beginnen, wohl eine unauffällige Abgeordnete, vielleicht würde ich deshalb keine Karriere machen. Streben nach mehr bedeutet heute, sehr populistisch zu agieren, laut und schreierisch aufzutreten. Das geht mir ziemlich auf die Nerven. Das war nie mein Ding. Ich würde es trotzdem probieren, weil ich keine Einzelkämpferin bin. Wir sind ja ein Team, wo jeder seine oder ihre Rolle einnimmt."
Gabriele Heinisch-Hosek ist Nationalratsabgeordnete der SPÖ und wird zur Wahl 2024 nicht mehr antreten. Die ehemalige Bildungsministerin sagt aber, sie würde wieder in die Politik gehen
Auch der neue SPÖ-Chef Andreas Babler versuche, seine Positionen "sehr pointiert darzulegen, was innerparteilich, dann wieder zu Diskussionen führt. Ohne Lautsein geht es an der Spitze wahrscheinlich nicht. Aber ein Team kann nicht nur aus Lauten bestehen, denn dann schreit man sich gegenseitig nieder und geht unter. Ich glaube, es braucht eine Mischung. Leider lizitiert sich das gerade sehr hoch. Populismus und Lautstärke sind für rechte Parteien wichtiger als Inhalte. Wir müssen den Turnaround schaffen, dann steigt auch wieder das Vertrauen der Menschen in die Politik. Also zurück zur Einstiegsfrage: Soll man sich heute politisch engagieren? Ja! Auf jeden Fall, ja!"
Grundsätzlich ja", sagt Beate Palfrader auf die Frage, ob sie noch einmal in die Politik gehen würde. "Ich habe die Erfahrung gemacht, dass man sehr viel bewegen, auch zum Positiven verändern kann. Ich wollte immer Kontakt zu den Menschen haben. Da bekommt man vor Augen geführt, wie es vielen geht und wo man ansetzen muss." Und wie ist die Einschränkung "grundsätzlich" zu verstehen?"Für mich war immer die Sachpolitik wichtiger als die Parteipolitik. Parteizugehörigkeit sollte kein Hauptkriterium sein, um ein Amt bekleiden zu können. Denn da geht es um die Ernsthaftigkeit bei der Lösung von Problemen." Einer Gesinnungsgemeinschaft anzugehören sei nicht per se schlecht, so die Tirolerin, die 2022 die Politik verlassen hat, "aber es darf nicht die Prämisse sein, zuerst zu schauen, was die Partei passt, es geht darum, was für die Menschen passt, unabhängig davon, welcher Partei sei angehören. Bei den Herausforderungen heute müsste man sich auf die besten Köpfe konzentrieren und nicht darauf, was der Parteichef vorgibt."
Noch ein Einwand zum Thema Parteilinie: "Mich hat es immer sehr berührt, dass sich so viele Menschen verbiegen. Und wenn man sich nicht verbiegt, wenn man zu seinen Meinungen steht, hat man oft innerhalb der eigenen Gesinnungsgemeinschaft Probleme." Palfrader war eine der wenigen in der ÖVP, die in den Kurz-Jahren öffentlich Kritik an ihrer Partei geübt hat, "weil ich Dinge als Unrecht empfunden habe, und da kann man nicht schweigen." Sie habe dabei gesehen: "Wenn du mit den Wölfen heulst, dann ist alles okay. Wenn du einmal anders heulst, bist du aus dem Rudel schnell draußen."
"Überleg dir deinen Weg"
Zumindest die Hälfte der Funktionen in Politik sollte mit Frauen besetzt sein, wünscht sich Palfrader. "Frauen müssen lernen, mehr Seilschaften zu bilden. Wenn ich keine Verbündete habe und keine Netzwerkerin bin, dann wird es umso schwieriger." Frauen müssten mehr aushalten in der Politik, bestätigt sie. "Mein Fell ist in den vierzehneinhalb Jahren dreimal so dick geworden." Heute, mit 65, würde sie nicht in die Politik zurückgehen, sagt sie. "Ich habe nach bestem Wissen und Gewissen gearbeitet -und zwar nach meinem Gewissen und nicht nach einem, das mir jemand aufoktroyieren will. Mit meinem ,grundsätzlich ja' habe ich gemeint: wenn ich die Zeit um 15 Jahre zurückdrehen könnte." Was sie also Jüngeren raten würde? "Ich gehe jetzt einmal davon aus, dass es eine Frau ist, die mich fragt. Da würde ich auf alle Fälle sagen, sie soll sich trauen. Sie soll den Mut und das Selbstbewusstsein aufbringen, dass sie das kann. Ich würde sagen: Trau dir das zu, überleg dir deinen Weg und bleib ihm treu. Und dann mach es."
Mehr als 14 Jahre lang war die Tirolerin Landesrätin für Bildung, Kultur und Arbeitsmarkt. Als eine von wenigen in der ÖVP übte Beate Palfrader Kritik öffentlich am Kurs von Sebastian Kurz
Die einen interessieren sich für alte Holzmöbel, der nächste für surrealistische Kunst, und ich bin ein Politschädel. Das ist meine Leidenschaft. Die kann ich mir ja nicht aussuchen. Hätte ich es nicht getan, wäre es ein ungelebtes Leben, und das vergiftet", sagt Matthias Strolz, der Neos gegründet und ins Parlament geführt hat. Nach sechs Jahren hat er die Politik wieder verlassen. "Sie ist sicher eines der negativsten Teilsysteme unserer Gesellschaft, ein negatives und verletzendes Feld. Du musst sehr gut auf dich schauen, damit du nicht durch das Negative infiziert wirst und dich der Zynismus auffrisst. Ich habe gemerkt, ich könnte das jetzt nicht bis 60 weiterziehen, ohne dass mich der Zynismus erwischt." Hauptgrund, die Politik zu verlassen, sei die Unvereinbarkeit mit der Familie gewesen. "Ich liebe Politik, und ich liebe meine Frau und meine Familie, daher habe ich mich so entschieden."
Auf sich selbst aufpassen
Man kann zwar Matthias Strolz aus der Politik bekommen, aber nicht die Politik aus Matthias Strolz. "Wenn ich wieder hineingehen würde, wüsste ich mehr über mich und darüber, wo ich aufpassen muss." Neben der Rücksicht auf seine Familie wäre das auch jene auf seine eigenen Kräfte. "Die Fantasie, dass die Kombination Mann und Vorarlberger Bergbauernbub zu körperlicher Unverletzbarkeit führt, war naiv." Also: "Ich würde heute viel mehr auf meinen Körper achten. Ganz viele in der Politik stellen ihre Körperlichkeit ganz hinten an. Zu wenig Sport, zu viele Termine, zu viel Alkohol, zu viel Frust. Das macht dich hin. Dabei bist die wichtigste Ressource für gute Politik du selbst."
"Ja, absolut", sagt Matthias Strolz auf die Frage: Würden Sie es wieder tun? "Würde ich wieder hineingehen, wüsste ich, wo ich aufpassen muss. Erkenne dich selbst, führe dich gut", lautet sein Rat
Strolz ist Teil des Vereins Love Politics, der politische Talente berät und fördert. "Führe dich selbst gut, erkenne dich selbst, ist mein erster Rat. Du musst wissen, wo sind deine blinden Flecken, wo bist du verführbar, was sind deine Stärken und Talente? Denn die Politik ist voller Verführungen: Macht, Ruhm, Anerkennung, Geld." Auch wenn der Ruf der Politik schwächelt, gebe es Menschen, die sich auf sie einlassen wollen. "Politik als der Ort, wo wir uns ausmachen, wie wir miteinander leben, diesen Ort wird es immer geben, und es wird immer Leute geben, die diese Faszination spüren." Die meisten Politiker seien "an einem Ort des Idealismus gestartet", sagt Strolz. "Die große Aufgabe ist, dass dieser Ort nicht über die Jahre verschüttet wird. Wenn du nicht darum ringst, ihn in Ordnung zu halten, dann weißt du nach ein paar Jahren nicht mehr, warum du in die Politik gegangen bist. Wenn dein Alltag nur noch daraus besteht, dein Salär zu organisieren und deine Position abzusichern, dann ist etwas gestorben - nämlich das ursprüngliche Feuer. Das macht etwas mit den Leuten. Dann werden sie anfällig für Zynismus und Verführungen aller Art."
Sie waren gut 30 Jahre in der Politik, haben sie aufgrund von Überlastung verlassen. Würden Sie -unter den heutigen Bedingungen - auch in die Politik gehen?
Ich würde es jederzeit wieder machen. Es ist ganz einfach der schönste Beruf der Welt. Natürlich muss man an diesem Beruf extrem viel verändern, aber die Möglichkeiten, die ich dort hatte - ich habe alle Ebenen kennengelernt: die außerparlamentarische, die parlamentarische und die Regierung -, waren extrem spannend, mit vielen Lernprozessen verbunden und mit vielen Möglichkeiten, etwas zu gestalten. Also: Wenn man ein Mensch ist, der Veränderung erreichen will, dann kann ich sagen: nur Mut und hinein in das Geschehen.
Als Sie angefangen haben, war die Reputation dieses Berufes aber viel höher.
Auch damals haben wir davon gesprochen, dass es eine Krise in der Politik gibt, dass die politische Kultur nicht funktioniert. Es war die Zeit eines Jörg Haider mit seinem strammen, rechtspopulistischen Kurs. Seither hat sich das Klima noch verschärft, aber das muss reformierbar sein. Dazu gibt es ja keine Alternative. Was wir brauchen, ist offensichtlich: einen Wiederaufbau des Vertrauens in politische Entscheidungsfindungen und Entscheidungsträgerinnen und -träger. Das geht aus meiner Sicht nur mit radikaler Ehrlichkeit und Transparenz. Und mit einer anderen politischen Kultur. Mir hat unlängst nach einer Lesung ein Gastronom gesagt: "Wenn ich alle anderen Wirte im Bezirk beschimpfen würde, dass sie schlecht kochen, bei den Zutaten schummeln und die Belegschaft ausbeuten, wäre auch unsere Branche ganz schnell kaputt."
Was muss also passieren?
Wir brauchen eine große Reform in Richtung Aufarbeitung aller Skandale, die da waren und da sind. Das meine ich mit radikaler Ehrlichkeit und Transparenz. Dazu kommt, dass viele Menschen gar keine Ahnung haben, was Politikerinnen und Politiker wirklich tun. Das ist nicht deren Schuld, sondern die Verantwortung der Politik, die das viel zu wenig hergezeigt hat und alles hinter einer Sphäre der PR-Tätigkeiten verschwinden lässt. Ich bekomme zum Beispiel heute noch aggressive Mails, dass ich jetzt in Saus und Braus von der Politikerpension lebe. Was nicht stimmt. Ich verdiene jetzt mein Geld mit täglicher Arbeit wie jeder andere Mensch auch. Das muss man einfach erklären. Wir brauchen radikale Transparenz und müssen die politische Bildung aufwerten. Und die Politik selbst muss ein anderes Bild abgeben.
Rudolf Anschober würde "jederzeit wieder in die Politik gehen", sagt der frühere Gesundheitsminister, sieht aber massiven Änderungsbedarf beim politischen Klima im Land
Für die radikale Ehrlichkeit braucht es die Bereitschaft aller Beteiligten. Sind die schon so weit? Oder braucht es erst den Super-GAU, den totalen Vertrauensverlust, damit alle bereit sind, an einem Strang zu ziehen?
Ich glaube, der Super-GAU ist längst da. In einer Umfrage in Deutschland haben zuletzt nur noch neun Prozent gesagt, sie haben Vertrauen in die Politik und ihre Institutionen. Tiefes Misstrauen ist das Schlimmste, was der Demokratie passieren kann.
Trotzdem machen die Politiker weiter wie bisher.
Ja, bei vielen scheint das so. Das hat sehr stark damit zu tun, dass die ehemaligen Parteien der Mitte eine Existenzkrise haben. Sie hangeln sich nur noch irgendwie durch, weil sie inhaltlich nicht mehr aufgestellt sind. Das ist nicht nur bei der ÖVP so, sondern auch bei konservativen Parteien in anderen Ländern. Das führt zu einer Destabilisierung des politischen Systems und zu einer Radikalisierung der Debatte. Man versucht, den Rechten die Stimmen abzugraben, indem man sie imitiert. Das führt zu dieser Unerträglichkeit des politischen Diskurses. Populisten haben ein anderes Ziel als andere Politiker. Sie wollen nicht gestalten oder Probleme lösen. Populisten wollen, dass die Probleme weiter bestehen, weil sie davon profitieren. Je geringer das Vertrauen in die Politik ist, desto größer ist die Wut, desto eher gibt es Protestwahlen, und desto mehr gewinnen sie. Es bräuchte also eine breite Allianz all jener, die eine ehrliche engagierte Politik machen. Das sind viele. Ich kenne solche Leute in fast allen Parteien. Sie müssten sich auf einen Kordon verständigen, was den Umgang miteinander und die Orientierung an Fakten betrifft. Denn wie kann man sich eine Gesellschaft wünschen, die nicht verroht, wenn man selbst das Gegenteil vormacht?
Sie sprechen von der Krise der Konservativen. Und die Sozialdemokratie?
Die ist international ebenfalls in einem schwierigen Prozess. Ich glaube aber, dass sozialdemokratische Parteien noch so so etwas wie einen Gründungsauftrag spüren, der bei den Volksparteien verloren gegangen ist. Da gibt es noch Inhalte, die stabilisieren und in einem gewissen Sinn mäßigen. Darum braucht die Politik eine Notbremsung und Reformen, die das Vertrauen zurückbringen. Und es braucht natürlich die Wählerinnen und Wähler. Belohnen sie den Polternden bei Wahlen oder Nachdenklichkeit, Besonnenheit und Verantwortungsbewusstsein? Und auch die Medien spielen eine wichtige Rolle.
Ich höre öfter bei Interviews, die Medien seien ja ähnlich unbeliebt wie Politiker und mitverantwortlich für das politische Klima im Land.
Für das Klima ist die fehlende Bereitschaft der Politik verantwortlich, Transparenz und Aufklärung zu ermöglichen. Das haben nicht die Medien verursacht, sondern Menschen, die Skandal um Skandal geschaffen haben, Transparenzbestimmungen blockierten, wodurch es über Jahre keine funktionierende Kontrolle gab. Aber: Zu einem Neubeginn gehört auch, dass man wieder lernt, gelungenen Initiativen oder Verbesserungen Platz einzuräumen. Es hat in den letzten Monaten wohl nicht viele Pressekonferenzen von Parlamentsparteien zu positiven Themen gegeben. Andererseits sagen die dann: "Da kommt ja keiner." Da gibt es eine negative Dynamik.
Wer soll sich heute noch die Politik antun? Wer erfolgreich war, verdient dort weniger, hat weniger Ansehen. Und was immer man nachher tut, es heißt: Er hat es sich gerichtet.
Genau. Wäre er nicht in der Partei, hätte er diesen Job nie gekriegt. Deswegen bin ich jedem Angebot aus dem Weg gegangen und habe mich völlig auf eigene Beine gestellt. So mancher Quereinsteiger überlegt, ob das wirklich ein guter Schritt war. Dazu kommt, was du in den sozialen Medien an Meldungen bekommst. Das ist teilweise schwer auszuhalten. Da ist ein schwer aggressiver Teil unterwegs. Warum sollte man sich das antun, wenn man nicht einen sehr ausgeprägten Veränderungs- und Gestaltungswillen in der Gesellschaft hat? Aber: Es gibt solche Menschen, bei jungen Menschen wieder viel mehr.
Wenn Ihr bester Freund oder die beste Freundin überlegen würde, in die Politik zu gehen. Was würden Sie sagen?
Ich würde sagen: Mach es! Und wenn du willst, bin ich jede Woche eine Stunde für dich da. Coaching ist wichtig.
Dieser Beitrag erschien ursprünglich in der News-Printausgabe Nr. 44/2023.