„Die Aufgabe der Kinder- und Jugendhilfe ist natürlich schon, zu versuchen, dass Kinder in ihrer Herkunftsfamilie wieder Fuß fassen können“, erklärt Martina Reichl-Roßbacher, leitende Sozialarbeiterin des Referats für Adoptiv- und Pflegekinder der Stadt Wien den entscheidenden Punkt: Ein Pflegekind kann theoretisch jederzeit wieder zu seinen leiblichen Eltern zurück kommen. Eine leise Betonung liegt dabei aber auf theoretisch, denn solch eine Rückführung passiert in der Praxis eher selten, wie Reichl-Roßbacher erklärt, „aber es kommt vor“ möchte sie betont wissen.
Häufigster Grund: Vernachlässigung
Bevor jedoch von Rückführung gesprochen wird, muss ein Kind erst einmal seine Ursprungsfamilie verlassen. Der häufigste Grund für diesen Schritt ist die Vernachlässigung, „das heißt, dass die Versorgung im Argen ist“, wie die langjährige Sozialarbeiterin erklärt, „dass die Kinder überhaupt nicht adäquat versorgt werden und es keine Kontinuität in ihrem Leben gibt“. Gepaart ist das Problem oft mit anderen Themen wie schlechten Verhältnissen oder Alkohol. In einem ersten Schritt würde natürlich immer versucht, die Eltern zu unterstützen, die Situation zu verbessern, doch „es gibt Eltern, wo das einfach nicht gelingen kann, weil sie es meist selbst nicht erfahren haben und oft auch keine Ressourcen haben“, so Reichl-Roßbacher.
Voraussetzungen für Pflegeeltern
Wird das Kind dann aus der Familie geholt, kommt es zunächst entweder in eine Krisenpflegefamilie (Kinder unter drei Jahren) oder ein Krisenzentrum (Kinder zwischen drei und 15 Jahren). Nach sechs bis acht Wochen erfolgt dann im Optimalfall die Übersiedelung zur Dauer-Pflegefamilie, die sich durch die Erfüllung gewisser Voraussetzungen (keine Vorstrafen, ausreichend Wohnraum, fixes Einkommen,…) sowie der Absolvierung eines 52-stündigen Seminars dafür qualifiziert hat. Der Familienstand (ledig, verheiratet, gleichgeschlechtlich,…) ist dabei irrelevant.
Vielmehr kommt es darauf an, „dass man sich das Leben mit einem Kind nicht nur vorstellen, sondern auch wirklich einrichten kann. Man muss erklären, welche Ressourcen man hat und sich überlegen, wie viel Zeit kann man überhaupt für ein Kind zur Verfügung stellen“, erklärt die Zuständige. „Pflegeeltern stattet aus, dass sie eine sehr sehr offene Haltung haben. Viele haben den Ansatz: Wir begleiten ein Kind. Natürlich wünschen wir uns, dass es bei uns aufwächst und groß wird, aber eigentlich begleiten wir es – auch in der Auseinandersetzung mit seiner Identifizierung, mit seinem Elternhaus.“
Soziale Komponente
Eine gewisse soziale Komponente spielt natürlich auch mit hinein, wie sowohl Reichl-Roßbacher als auch das Pflegeeltern-Paar, das mit News.at über seine Situation gesprochen hat, erklären: „Wir wollten einem Kind, das einen schwierigen Start ins Leben erfahren musste, die Chance bieten, in einem geborgenen, sicheren und liebevollen Umfeld aufzuwachsen“, so der 46-jährige Pflegevater über die Beweggründe des Paares, dessen eigener Kinderwunsch bislang unerfüllt blieb.
"Man weiß nicht, wie alt das Kind sein wird"
Auf die Entscheidung für ein Pflegekind folgte ein „relativ rascher Prozess von einigen Monaten" bis die - überraschenderweise beiden - Kinder einzogen, schildert das Paar. Die Vorbereitungen seien jenen einer Schwangerschaft nicht unähnlich gewesen: Wohnraum gestalten, Gedanken machen,… Jedoch mit dem einen großen Unterschied: „Man weiß nicht, wie alt das Kind genau sein wird und welche Vorgeschichte es mitbringen wird.“
Die Vorgeschichte hat auch hier mit Vernachlässigung zu tun, ganz genau wollte es das Paar jedoch gar nicht wissen: „Alles im Detail zu wissen, wäre unserer Meinung nach kontraproduktiv, da es zu Wut gegenüber den leiblichen Eltern oder Überinterpretation führen könnte.“ Ein grundlegender Wissensstock sei aber natürlich nötig, „um gewisse Verhaltensweisen besser einordnen zu können und um manchmal besser reagieren zu können.“
Warum der Elternkontakt wichtig ist
Dieses Pflegeeltern-Eltern-Kind-Dreieck ist eine ebenso hochsensible wie wichtige Beziehungskonstruktion. Etwa ein Mal im Monat findet in der Regel der Kontakt von Kindern und leiblichen Eltern unter Sozialarbeiter-Begleitung statt, so auch hier. „Der Kontakt ist absolut notwendig, damit die Kinder diesen Teil ihres Lebens gut in ihre Biographie integrieren können, damit umgehen lernen und es für sie immer ihre Art von normalem Leben bleibt“, zeigt die Pflegefamilie Verständnis für diese Treffen, die zudem, ergänzt Reichl-Roßbacher, auch zu einer besseren Integration der Kinder in der Pflegefamilie führen: „Unsere Erfahrung, auch wissenschaftlich belegt, ist: Wenn Kinder zu den Eltern Kontakt haben, und hier kein Abbruch passiert, dann bindet sich das Kind viel leichter in der Pflegefamilie.“
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Trotz seiner Bedeutung sind diese Treffen aber natürlich nicht immer einfach. Am Anfang sei der Kontakt sehr häufig gewesen, erinnern sich die Pflegeeltern „und hinderte uns massiv, ein geregeltes Familienleben aufzubauen.“ Inzwischen sei es eher zur Routine geworden, der die Kinder nicht mehr sonderlich belaste. Den Kontakt würden leibliche Eltern oft gut bewältigen, erzählt Reichl-Roßbacher aus ihrer Erfahrung, aber eben die Kontinuität und den Alltag nicht.
Und die Pflegeeltern? Bringt jeder Kontakt das Thema der Rückführung wieder auf die Tagesordnung? „Das rückt eigentlich immer mehr in den Hintergrund, schon aufgrund des Alltages und spielt keine Rolle mehr. In unserem Fall ist aber auch die Wahrscheinlichkeit, dass es zu einer Rückführung kommt, verschwindend gering.“
Damit ist also die ständige Präsenz einer möglichen Rückführung nicht die größte Herausforderung. „Nein“, sagen jene, die dieses Modell leben. „Die größte Herausforderung ist, dass uns eine Ur-Beziehung zu den Kindern, die absolute Grundvertrautheit, die natürliche Bindung als Basis eben fehlt. Es wird Jahre dauern, bis die Kinder zu uns eine halbwegs stabile Bindung aufgebaut haben werden und es wird nie dieselbe Qualität haben, wie bei einem leiblichen Kind. Das äußert sich durchaus im Alltag, wo wir merken, dass der Draht zu den Kindern viel viel dünner ist als bei leiblichen Eltern und er auch einmal reißen kann. Damit umzugehen ist eine große emotionale Herausforderung.“
Dennoch sieht sich die Pflegefamilie inzwischen längst als „normale Familie“, das Thema Pflegekind oder nicht spiele keine Rolle mehr, man rede ganz selbstverständlich „von unseren Kindern“ und die Ansprache „Mama“ und „Papa“ empfinde man als einzig logische. Und genau das sei auch das Schönste und Wichtigste: „Zu 99 Prozent lebt man als Pflegefamilie das gleiche Familienleben wie alle leiblichen Familien, mit allen Glücksmomenten, Horrornächten, rührenden und stolzen Momenten, Ärger und Frust, Spaß und Abenteuer....kurz: es ist das pure Leben mit Kindern und jeder Tag, den man den Kindern in einem gelungenen Umfeld bieten kann, kann einem selbst und den Kindern ein Leben lang niemand mehr wegnehmen!“
Weitere Fakten und Infos zum Thema Pflegefamilie:
- Alter: Eine gewisse Lebenserfahrung sollte mitgebracht werden beim Antrag. Die meisten Pflegeeltern sind nicht jünger als 25 Jahre alt. Ein Eltern-Kind-Verhältnis muss möglich sein (also nicht Großeltern-Kind), es gibt aber keine fixe Altersbeschränkung, denn es kommt eher darauf an, was jemand für Stärken und Fähigkeiten mitbringt, denn die Alternative ist meist eine Wohngemeinschaft und es gibt wichtige Jahre eines Kindes, wo es gut ist, eine Familie zu haben.
- Gehalt: Es gibt zwei Modelle sowohl bei der Krisenpflege als auch bei der Dauerpflege. Modell 1 liegt einen Euro über der Geringfügigkeitsgrenze, Modell 2 bei ca. 1.300 Euro brutto, mit der Möglichkeit einer Anstellung für sechs Monate (bei der Krisenpflege setzt dies voraus, dass man auch Geschwister aufnimmt, dass man mindestens zwei Kinder aufnimmt, eine gewisse Bereitschaft hat und erreichbar ist).
- Eine Karenz ist genau zu den selben Bedingungen und Zeiten wie bei einem leiblichen Kind möglich.
- Eine Pflegeelternschaft, die in Adoption übergeht ist prinzipiell möglich, passiert aber selten.
- Im Unterschied zur Adoption behalten die leiblichen Eltern ihre Rechte weitgehend und treten nur die Pflege und Erziehung des Kindes an das Jugendamt ab, das dann die Pflegeeltern damit beauftragt.
- Pflegeeltern dürfen aber alles entscheiden, was zum Alltag gehört, wie etwa die Schule, den Kindergarten, ob ein Kind geimpft wird, einen Reisepass beantragen, ein möglicher Umzug. Es muss aber immer gewährleistet werden, dass die Eltern Kontaktmöglichkeit haben. Pflegeeltern haben zudem Parteistellung bei Gericht.
- Herkunft: Jedes Bundesland versorgt in der Regel seine eigenen Pflegekinder. Bei der Vergabe wird, sofern möglich, darauf geachtet, dass die leiblichen Eltern nicht unmittelbar ums Eck wohnen.
- In Wien herrscht ein Mangel an Pflegeeltern und ein massiver Mangel bei Geschwisterunterbringungen. Gesucht werden auch immer wieder Pflegeeltern für Kinder mit Entwicklungsrückständen und zunehmend Familien, die nicht auf ein baldiges Reisedokument angewiesen sind.
- Im Jahr werden in Wien rund 120 Kinder in Pflegefamilien vermittelt.
- Weitere Infos zum Thema Pflegefamilie beim Referat für Adoptiv- und Pflegekinder (RAP)