Oft schultern wir mehr, als wir können - oder wollen. Vor allem Frauen fällt es oft schwer, Nein zu sagen. Welche psychischen Folgen ständige Überforderung hat und wie man lernt, die eigenen Grenzen und Bedürfnisse besser zu wahren.
Viel zu oft sagen wir Ja, wenn wir eigentlich Nein sagen wollen. Zum Beispiel dann, wenn wir ohnehin schon unter Zeitdruck stehen und der Kollege uns dringend um "diesen einen Gefallen" bittet. Oder wenn wir hundemüde von der Arbeit heimkommen und uns nur noch aufs Sofa fallen lassen möchten, doch Tante Gerti wünscht sich so sehr, dass wir zu ihrer Geburtstagsparty kommen.
Wir sagen Ja zu Aufgaben, die uns eigentlich überfordern, zu Terminen, auf die wir keine Lust haben, und zu Traditionen, die oft sehr viel mehr Energie kosten, als dass sie nützen. Energie, die viele Menschen nicht mehr haben. Vor allem Frauen tun das. Und sie tun es bis zum Burnout.
"Ja"-Sagen bis ins Burnout
Die Wiener Psychologin Brigitte Sindelar weiß, warum wir uns stets noch mehr Arbeit aufhalsen, wenn eigentlich schon nichts mehr geht. Nämlich "aus Angst, abgelehnt zu werden, die Liebe zu verlieren, oder aus Angst, angegriffen, beschimpft zu werden". Wer ständig Ja sagt, schützt sich gewissermaßen vor dem Gefühl, enttäuscht zu haben, und vor den Schuldgefühlen dafür, erklärt die Leiterin des Sindelar Centers.
Es ist aber nicht so, dass diese Verhaltensweisen biologisch determiniert wären. Viel mehr werden diese schon in jungen Jahren antrainiert - vor allem Frauen. "Wenn wir keinen Konflikt provozieren, wenn wir uns nicht dagegenstellen, mag man uns, zumindest mehr, als wenn wir Nein sagen. Der Feind der Persönlichkeitsentwicklung, der Gehorsam, ist noch immer nicht aus der Erziehung vertrieben worden. Und Gehorsam zu verlangen, ist nicht das Gegenteil von Grenzenlosigkeit in der Erziehung", so die Psychologin.
Lisa Tomaschek-Habrina ist Businesscoach und Psychotherapeutin und weiß: "Wir alle haben innere 'Antreiber' wie 'Ich muss schnell sein', 'Ich muss durchhalten', 'Ich muss es allen recht machen', 'Ich muss perfekt sein', 'Ich muss stark sein'. Diese Antreiber sind in uns allen in unterschiedlich starker Ausprägung vorhanden und waren oft sicher gut gemeint, damit wir gut durchs Leben kommen. Doch im späteren Leben erweisen sie sich oft als problematisch."
Die mahnenden Worte aus der Kindheit hallen nach und machen im schlimmsten Fall krank. Stichwort Burnout. Denn meist sind die Antreiber, die es oft so schwer machen, Nein zu sagen. "Hinter den Antreibern liegen Glaubenssätze, die sich in unserem alltäglichen Leben mehr oder weniger zu Antriebsdynamiken verfestigen", so Tomaschek-Habrina. Ein Mensch, der nie gelernt hat, Nein zu sagen, bleibt Sindelar zufolge abhängig, lässt sich unkritisch beeinflussen, ist verführbar, lässt sich ausnutzen und versinkt in ständiger Überforderung. Ein Teufelskreis. "Dieser Mensch fühlt sich klein, machtlos und minderwertig, weil er ausgenützt wird, sobald er das erkennt. Und dann sagt er wieder Ja, um die beliebte 'gute Seele' zu sein." Das Burnout, so die Psychologin, ist die Folge eines übertriebenen Ja-Sagens zu der Leistungsanforderung einer Gesellschaft und ein Nein-Sagen zu sich selbst: "Zuerst bekommt man Anerkennung, oft sogar Bewunderung, und dann bestenfalls Mitleid."
Kinder orientieren sich am Verhalten der Eltern
Kinder beobachten das Verhalten der Eltern genau und orientieren sich daran. Wer mit verbalen Antreibern wenig Erfahrung gemacht hat, kann dennoch unter Antriebsdynamiken leiden, wenn sich das Verhalten der Eltern als inkongruent herausgestellt hat, so Tomaschek-Habrina: "Sie fordern von anderen, 'Mach doch mal Pause!', obwohl sie sich selber nie Pause gönnen. Das verfestigt sich in den Kindern, und dadurch erlernen sie dieses Verhalten."
Ähnlich ist dieser Effekt im Bezug auf die These, dass Frauen eher Probleme damit haben, Nein zu sagen. Tomaschek-Habrina erklärt, dass vor allem Frauen ein besonders Bedürfnis danach haben, gemocht zu werden. Eine Ursache sind auch hier die Vorbilder aus der frühen Kindheit und Jugend. "Wer mit Frauen im Umfeld aufgewachsen ist, die immer nur Ja zu allem gesagt haben, ist als Erwachsene im späteren Leben eher dazu verleitet, auch zur Ja-Sagerin zu werden und persönliche Grenzen nicht genau zu beschützen."
Vor allem deshalb ist es wichtig, jungen Menschen sowohl in der Kindheit als auch in der Pubertät Trotzphasen zuzugestehen, um ihre Persönlichkeit zu stärken, ergänzt Brigitte Sindelar. "Im Trotzalter, also so ungefähr zwischen zwei und vier Jahren, ist Nein das Wort, das die Kinder am häufigsten verwenden. Sie stehen in der wichtigen Phase einer ersten Autonomieentwicklung. Hier braucht es viel Selbstreflexion der Eltern: Wann muss ich wirklich Nein zum Nein sagen? Wann unterstütze ich die Autonomieentwicklung meines Kindes, wenn ich sein Nein akzeptiere, ohne mich von ihm abzuwenden? Welches Vorbild gebe ich meinem Kind? Wer als Kind zu den Eltern auch Nein sagen darf, ohne deswegen gleich die Zuwendung zu verlieren, kann es auch dann Jahre später zu anderen sagen."
Bedürfnisse zulassen, ohne zu verärgern
Wer ein Nein akzeptiert und selbst auch praktiziert, schützt sich selbst vor unangemessenen Forderungen und lässt sich nicht so leicht in die Selbstausbeutung treiben, so die Psychologin. "Die eigenen Grenzen zu kennen und zu respektieren, das unterstützt die Resilienz."
Doch umgekehrt ist ständiges Nein-Sagen auch nicht gewinnbringend. Im Gegenteil, es kann zwischenmenschliche Beziehungen dauerhaft schädigen. Besonders heikel kann ein Nein im beruflichen Kontext werden. Ein Ja oder ein Nein muss deshalb immer situationsadäquat sein und darf nicht zum Prinzip werden, mahnt Sindelar. "Zu Vorgesetzten sagt man am besten mehr als nur Nein. Also zum Beispiel:,Ich würde das gerne tun, aber das geht sich mit meinem Zeitbudget nicht aus.' Wer die Umstände erklärt und gleichzeitig Lösungen anbietet, schützt nicht nur die eigene Psyche, sondern zeigt auf, dass realistisches Zeitmanagement betrieben wird."
Ständiges Ja-Sagen birgt stets die Gefahr der Selbstverleugnung. Das versucht Tomaschek- Habrina, ihren Klienten in Coachingsitzungen zu lernen: "Man darf sich auch erlauben, die eigenen Grenzen wahrzunehmen. Wir müssen das Recht in Anspruch nehmen, es allen recht zu machen - vor allem uns selbst."
Indem man bestehende Glaubenssätze hinterfragt und neue Verhaltensweisen trainiert, kann man die störenden, krankmachenden Antriebsdynamiken sukzessive loslassen. "Im Coaching frage ich meine Klienten: 'Welchen Nutzen haben Sie, wenn Sie es allen recht machen?' Die meisten antworten, sie werden dadurch eher akzeptiert -zumindest ist das der Glaube." Denn schließlich werde man auch dann gemocht, wenn man Aufgaben, Einladungen oder Termine höflich nicht annehme.
Buchtipp:
Vorgesetzte sind mehr denn je gefordert, Ängste zu managen. Doch sie selbst stehen mit ihren eigenen Ängsten und Zweifeln oft alleine da. Maren Lehky bietet mit "Führungscoaching To Go"* anwendbares Praxiswissen für akute Stresssituationen.
Training fürs Gehirn
"Man kann für sich neue Glaubenssätze erarbeiten und die alten aufgeben. Das ist ein Training für unser Gehirn, denn Glaubenssätze werden in neuronalen Strukturen angelegt. Diese zu verlernen, erfordert Übung und Anwendung im Alltag", erklärt Tomaschek-Habrina. "Man muss im Gehirn neue Strukturen anlegen, um sich von alten Mustern zu verabschieden. Je öfter Sie Erfahrungen machen, dass sich Ihre alten Glaubenssätze nicht bestätigen, desto öfter werden Sie die neuen Verhaltensweisen anwenden und damit Erfolg haben."
Doch die äußeren Trigger werden dadurch nicht verschwinden, erklärt die Business-Expertin: "Wenn mich meine Kollegen immer für zusätzliche Ordnungsarbeiten eingeteilt haben, weil man mir ein besonders Organisationstalent attestiert hat, dann werden sie dies auch weiterhin tun oder zumindest versuchen - weil sie mit dieser Strategie ja erfolgreich waren und davon profitiert haben. Man kann sich aber dazu entscheiden, nicht auf den Trigger anzuspringen." Brigitte Sindelar setzt dabei auf eine recht einfache und praktische Entscheidungshilfe für den Alltag, den ihr der US-amerikanische Psychoanalytiker Rudolf Ekstein mitgegeben hat: "Bevor du Ja sagst, überlege dir, ob du nicht genau so gut Nein sagen könntest."
Dieser Beitrag ist ursprünglich in der News-Printausgabe Nr. 38/2022 erschienen.
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