Die Frage nach der Zukunft des Burgtheaters ab 2024 legt an Dringlichkeit zu. Und sachte gewinnt ein Name Terrain: Der Österreicherin Marie Rötzer, die Weltregisseure nach St. Pölten brachte, werden intakte Aussichten zugebilligt
Steckbrief Marie Rötzer
Name: Marie Rötzer
Geboren am: 16. Juli 1967 in Mistelbach
Ausbildung: Studium Theaterwissenschaft und Germanistik
Beruf: Theaterintendantin, seit 2016 künstlerische Leitung des Landestheaters NÖ
Mehr versehens als unversehens ist die Luft dünner geworden für den Burgtheaterdirektor Martin Kusej, 61. Dass die Bereitschaft der Politik, ihn nach 2024 für fünf weitere Jahre im Amt zu halten, nicht ins Libidinöse auswuchert, war so klar wie die Vorwürfe: Inaktivität zur Pandemiezeit, während der folgerichtig bis 2030 verbleibende Operndirektor das Haus sieben Monate in Rotation hielt; anhaltend schütterer Publikumszuspruch bei zwischenzeitlich 100 Prozent Septemberauslastung der Staatsoper; Abgänge markanter Ensemblemitglieder Richtung Berlin, Hamburg und Sky: Da schien zunächst die seit Sommer kursierende Schonvariante plausibel, Kusej für zwei Jahre, bis zur Erreichung des Ruhestandsalters anno 2026, im Amt zu halten. Denn der Abgang nach einer Amtsperiode gliche einer krachenden Misstrauenserklärung. Und so schlimm läuft es ja auch wieder nicht am Haus.
Kaum allerdings war die Variante öffentlich, hatte sie den schonenden Charakter naturgemäß auch schon wieder eingebüßt. Und so teilt Kusej jüngst mit, er wünsche fünf weitere Jahre oder gar nicht im Amt zu bleiben. Worauf das vielleicht schlagendste Argument wirksam wurde: Wer soll ihm denn folgen? Die Idealkandidatin Barbara Frey will nicht. Den Idealkandidaten Thomas Ostermeier will, nach einem älteren Zerwürfnis, die Politik nicht. Bettina Hering, lang favorisierte Schauspielchefin der Salzburger Festspiele, dürfte sich im überschaubar geglückten Sommer 2022 aus dem Bewerb programmiert haben.
Marie Rötzer ist plötzlich im Bewerb
Bettina Hering leitete zuvor das Niederösterreichische Landestheater St. Pölten. Und, siehe da, aus eben jener Gegend dringt neuerdings diskret, aber scharf akzentuiert der Name von Herings Nachfolgerin: Marie Rötzer, 55, geboren in Mistelbach, Niederösterreich, ist über elegante Dramaturgien in Bremen, Berlin, Zürich, Czernowitz, Graz und zuletzt - prägend - in Hamburg bei Joachim Lux als Chefin in die engere Heimat zurückgekehrt. Jetzt könnte sich unvergleichbar Höheres anbahnen, ohne dass die eloquente Dame dazu auch nur ein Wort verlieren wollte.
Aber über ihr Haus gibt es allerhand zu melden. Über annähernd 80 Prozent Auslastung im großen Haus kann die versammelte Wiener Konkurrenz nur halluzinieren. Die Abonnenten sind geblieben, die Schulklassen kommen wieder, der Einzelverkauf läuft. Die Antwort auf die Frage, wie solche Resultate zu erzielen seien, ist schon pures Programm.
Parallelwelten
"Wir machen gutes Theater. Wir erzählen Geschichten, die ins Heute transportiert werden, die Menschen berühren und betreffen." Gerade feierte Schnitzlers "Reigen"(im Salzburger Sommer das Katastrophenprojekt schlechthin) in der duftigen Inszenierung von Franz-Xaver Mayr Premiere. "Das wurde bei uns ins Heute übertragen, humorvoll, mit einer spielerischen Note, nicht mit einer moralischen Geste, und mit Anknüpfungspunkten für das eigene Leben", freut sich die Direktorin, ehe sie zum Größeren kommt. "Ich möchte, dass wir im Theater Parallelwelten erschaffen, in denen spielerisch Weltliteratur verhandelt wird. Und zwar in einem Dialog mit dem Publikum. Das darf nicht gelangweilt, gemaßregelt oder mit der Moralkeule erschlagen werden. Wir sind nicht bildende Kunst, wo ein Bild auch allein für sich hängen kann." Und wie anheimelnd sich in die weltläufig hamburgisch-berlinerische Dramaturgenrhetorik das monophthongierte Weinviertler "ei" und "au" schmiegt!
Aus dem Weinberg
Der Vater, heute Pensionist, hat im nördlichsten Niederösterreich den Grünen Veltliner gezogen, aber immer gab es eine Gegenwelt. Die Mutter, eine große Leserin, hörte Mozart, wenn sich andere Radio Niederösterreich anvertrauten. Den Vater zog es aus dem Weinberg zum Chorgesang. Die Nähe des Eisernen Vorhangs ließ schon im Kind die Überzeugung reifen, dass Grenzen zur Sprengung bestimmt seien, weil man sonst nicht hinaus in die Welt gelangen könne. Also studierte die Tochter in Wien Germanistik beim legendären Wendelin Schmidt-Dengler, der ihr die Ohren für die österreichische Gegenwartsdramatik öffnete.
Die Resultate ihrer 2016 angetretenen St. Pöltner Intendanz sind erstaunlich. Der belgische Weltregisseur Luk Perceval reiste 2021 für eine Koproduktion mit seinem Genter Theater an die Traisen. Im Jänner 2022 hängte der Riese Frank Castorf seinen Marathonverpflichtungen an "Burg" und Staatsoper eine Etappe in St. Pölten an, um einen Text seiner früheren Gefährtin Irina Kastrinidis in Szene zu setzen. Es wäre ja auch verwunderlich, unterspielt Marie Rötzer, wenn sie sich über die Berufsjahre kein Netzwerk knüpfen hätte können.
Nichts aber ist hinsichtlich der Konsequenzen mit Elfriede Jelineks Trump-Groteske "Am Königsweg", Premiere im März 2019, zu vergleichen. Der Regisseur und Puppenspieler Nikolaus Habjan wollte gerade mit den Proben für sein Herzensprojekt, die Dramatisierung von Elias Canettis Roman "Die Blendung", beginnen. Da ließ die Nobelpreisträgerin wissen, sie würde Habjan gern die österreichische Erstaufführung des "Königswegs" anvertrauen. Augenblicklich, staunt der Puppenmeister noch heute, war damit die "Blendung" verschoben und Jelinek im Programm.
Die Aufführung wurde von der "New York Times" unter die zehn besten der Saison in Europa gewählt. Ende 2021 zeigte sich die nämliche, nicht einflusslose Zeitung über einen St. Pöltner "Othello" mit schwarzem Darsteller begeistert.
"Die Blendung"
Nach einer weiteren, pandemisch bedingten Endlosverschiebung kommt "Die Blendung" in Paulus Hochgatterers Dramatisierung nun endlich am 15. Oktober heraus. Canettis Nobelpreiswerk, 1931/32 unter der Bedrohung des aufkommenden Faschismus in Wien geschrieben, ist idealer Stoff für den Puppenmagier Habjan. Der seiner Bücherversunkenheit lebende Sinologe Kien und die Haushälterin Therese, die ihn mit apokalyptischen Konsequenzen in die Niederungen des Fleisches zerrt, sind die einzigen ausschließlich von Schauspielern verkörperten Gestalten auf der Bühne. Das perverse, grausame, halbmenschliche Panoptikum rundum teilen sich Schauspieler mit Habjans Puppen.
"Die 'Burg' läuft schlecht"
Habjan, der vielleicht einzige von Talent und Ästhetik originelle Regisseur, den der deutsche Sprachraum in den vergangenen Jahrzehnten hervorbringen konnte, ist derzeit in vielen Eigenschaften unterwegs. Seine furiosen Pfeifkonzerte mit klassischem Arienrepertoire sind so gefragt wie die Georg-Kreisler-Abende mit der Band Franui. Er inszeniert an reputierlichen deutschen Sprech-und Opernbühnen. In Dortmund, wo er etwas wie der Erste Gastregisseur ist, hat er soeben eine gefeierte "Zauberflöte" herausgebracht. Stefan Herheim, eben antretender Intendant des Theaters an der Wien, hat ihn als einen der wenigen Verbliebenen aus dem Portfolio des Vorgängers Roland Geyer für Offenbachs "La Perichole" verpflichtet.
Aber im Burgtheater, von dessen Direktor Matthias Hartmann Habjan quasi aus dem Nichts entdeckt wurde, gibt es ihn nicht mehr. Dafür wird er im Personal der "Josefstadt" geführt. Er zeigt dort -zunächst -sein Herzensprojekt, die Geschichte des Nazi-Opfers Friedrich Zawrel. Mit dem Burgtheater habe er nichts mehr zu tun, sagt Habjan. "Die Stimmung am Haus ist nicht gut, Kusej und ich haben auch verschiedene Ansichten vom Theater und vom Umgang mit den dort beschäftigten Menschen. So schlecht, wie das Haus jetzt im Kern läuft, habe ich es unter keiner anderen Direktion erlebt. Ich glaube auch, dass mich der Direktor nicht am Haus sieht. Und ich dränge mich nicht auf." Die Theaterkunst insgesamt, sagt Habjan, befinde sich in der Sackgasse. "Es geht nicht um billige Bespaßung, aber wenn ausschließlich die Einladung zum Berliner Theatertreffen oder die Besänftigung gewisser Rezensenten gilt, vergisst man das Publikum." Marie Rötzer?"Wenn sie ans Burgtheater käme, würde ich mich für sie und das Haus freuen. Ich hoffe, dass sie die Energie, die sie in St. Pölten an den Tag legt, übertragen kann. Die Stimmung am Haus ist so hervorragend, wie es das Burgtheater dringend nötig hat."
"Schreien kommt nicht vor"
Gemeinsam Inhalte zu erarbeiten, dabei Funken zu schlagen, nennt Marie Rötzer selbst eine ihrer Hauptqualitäten. Das Team, die mit korrektem Tarek-Leitner-Schluckauf gegenderten Mitarbeiter*innen: Um die gehe es. "Ich spüre nicht die Genialität in mir, zu bestimmen, was geschieht." Weiter im Grundsätzlichen: "Ich haue nicht auf den Tisch und werde nicht laut. Ich übernehme gern Verantwortung, aber mit Argumenten. Und wenn das andere Argument besser ist, gilt es. Ich würde mein Führungstalent als female governance beschreiben. Schreien kommt bei mir nicht vor. Und auch nicht bei genialen Tyrannen", kommt sie auf die wütigen Titanen am Regiepult. "Das gibt es in unserem Haus nicht, von niemandem. Wenn es Probleme gibt, setzen sich sofort alle an einen Tisch. Ich habe in meiner Laufbahn erlebt, dass vor allem männliche Regisseure laut oder zynisch geworden sind. Wenn ich das in einer Führungsposition unterbinden kann, tue ich es."
In St. Pölten, kommt sie auf die Kernfrage eines jeden Intendantenwechsels, sei ein Drittel des Ensembles geblieben und ein weiteres von selbst gegangen. Vom dritten Drittel habe man sich getrennt. Man könne das aber vom vergleichsweise schmalen Personalstand in St. Pölten nicht einfach auf andere hochrechnen.
Nichts gesagt und damit alles: Das muss man erst zusammenbringen.
Dieser Beitrag ist ursprünglich in der News-Printausgabe Nr. 41/2022 erschienen.