Marcel Marceau, Meister der wortlosen Dramatik, der Generationen von Künstlern und Künstlerinnen beeinflusste – von Samuel Becketts pantomimischem Finale in „Endspiel“ bis Michael Jacksons „Moonwalk“ – hatte während des Kriegs, viele Jahre vor seinen internationalen Erfolgen, ganz andere Aufgaben. 1923 in Straßburg als Sohn des Fleischers Salman Mangel geboren, der, wenn er nicht in seiner koscheren Fleischerei arbeite, als Vorbeter und Sänger der jüdischen Gemeinde diente, verschwand mit 18 Jahren gemeinsam mit seinem Bruder aus dem elterlichen Heim und schloss sich der französischen Résistance an.
Innerhalb der Widerstandsbewegung gründete der Sportlehrer Georges Loinger, ein Cousin von Marceau, eine eigene Truppe, die sich auf den Schmuggel von Kindern aus französischen Waisenheimen in die Schweiz spezialisierte. Loinger, ein waghalsiger Draufgänger, wurde bereits in den ersten Kriegstagen gefangengenommen, wenige Monate später gelang ihm die Flucht.
Kinderhilfswerk
Zurück in Frankreich gründete er die Gruppe „Oeuvre de Secours aux Enfants“ (Kinderhilfswerk), einer seiner engsten Mitstreiter war sein Vetter Marceau. Loinger starb 2018 und bekam zahlreiche Auszeichnungen und Ehrungen für seine Rolle in der Résistance. Als Marceau 2007 starb, sprach Loinger über die Erinnerung an seinen Cousin und dessen Hilfe bei der Flucht jüdischer Kinder. „Die Kinder liebten Marcel“, sagte er, „sie vertrauten ihm, fühlten sich sicher unter seiner Obhut in diesen gefährlichen Zeiten.“ In Waisenhäusern wurden jüdische Kinder, deren Eltern getötet, verhaftet oder deportiert worden waren, unter den anderen Kindern versteckt. „Marcel“, erzählte Loinger, „hatte schon als Kind wenig gesprochen und alles mit seiner Mimik ausgedrückt. Er bereitete die Kinder auf die Flucht vor, wann sie schweigen sollten oder singen, wenn sie vorgaben, eine Kindergruppe auf dem Weg in die Ferien zu sein. Es war oft nicht einfach, eine ganze Horde von Buben und Mädchen über die Grenze zu schmuggeln und wieder zurückzukehren.“
Die Kinder trugen kurze Hosen und Wanderschuhe, einen Rucksack mit Regenjacke und Proviant. Alles sollte aussehen, als würden sie einen Ausflug in die Berge machen. Marceau trainierte mit ihnen, wann sie auf sein Zeichen schweigen, sich unter Büschen verstecken und nicht bewegen sollten. Mit seiner Mimik kommunizierte er lautlos mit den Kindern. „Marceau versuchte, ihnen beizubringen“, berichtete Loinger, „wie sie keine Ängste, keine Nervosität zeigen, sich wie eine Gruppe verhalten, die im Sommer in die Berge fährt.“
Pfadfinder
Philippe Mora, der Sohn eines geretteten Kindes, erzählte: „Mein Vater kam als Pfadfinder über die Grenze. Marceau übte mit einer Gruppe von 24 Kindern, die als Pfadfinder verkleidet waren, tagelang Lieder, die Pfadfinder auf Wanderungen singen. Er selbst marschierte dann vor der Gruppe, ebenfalls verkleidet. Das war alles kein Showbusiness, sondern tödlicher Ernst.“
Marceau bemerkte während einiger Kontrollen durch Soldaten der Wehrmacht, dass diese nie belegte Brote mit Mayonnaise untersuchten. Sie wollten keine Fettflecken auf ihren Uniformen. Also versteckte er die ID-Karten der Kinder, die sie auf der Schweizer Seite brauchten, in den mit Mayonnaise gefüllten Sandwiches. Marceau selbst brachte etwa 70 Kinder über die Grenze, die ganze Truppe nahezu 400. Schon während des Kriegs änderten er und sein Bruder den Namen vom typisch jüdischen Mangel in Marceau nach dem General Marceau-Desgraviers der französischen Revolution.
Befreiung
Die letzten Wochen vor der Befreiung verbrachte er in einem Kinderheim in der Nähe von Paris und fälschte die Identitätskarten von 30 jüdischen Kindern, um sie zwischen anderen Kindern zu verstecken. Jeden Freitagabend entwickelte er mit den Kindern ein neues Theaterstück, doch der Höhepunkt der Woche war seine Imitation von Charlie Chaplin, die er jeden Samstagmorgen den Kindern und dem gesamten Personal des Heimes bot.
Eine der bekanntesten Anekdoten aus Marceaus Leben geht zurück auf ein Ereignis kurz vor Ende des Kriegs, als er zufällig auf eine Gruppe deutscher Soldaten stieß. Er spielte einen französischen Offizier in Zivil so überzeugend, dass sich alle ergaben und er sie als Gefangene ablieferte – 30 bewaffnete deutsche Soldaten.
In den ersten Monaten nach Ende des Kriegs holte ihn die französische Armee als Entertainer und schickte ihn wegen seiner Sprachkenntnisse zu den französischen, britischen und amerikanischen Truppen nach Deutschland, wo er mit Solo-Auftritten vor Soldaten spielte. Sein Vater hatte weniger Glück. Er wurde 1944 verhaftet, nach Auschwitz deportiert und ermordet. Seine Mutter überlebte. Marceau erfuhr davon erst nach Ende des Kriegs. „Ich weinte damals tagelang wegen meines Vaters“, sagte er in einem Interview, „und ich weinte auch über die Millionen Toten, die ich nicht kannte. Das Schicksal beschenkte mich mit dem Leben, deshalb versuche ich, mit meiner Kunst anderen Hoffnung zu machen.“
Harlekin
1946 spielte Marceau zum ersten Mal einen Clown, den „Harlekin“ in einer Bühnenfassung des Films „Die Kinder des Olymp“. Der enorme Erfolg motivierte ihn, ein Jahr später als tragischer Clown, den er Monsieur Bip nannte, in einem Mimodrama aufzutreten. Daraus entstand eine Rolle, die ihn weltberühmt machte. 40 Jahre lang spielte er auf vielen Bühnen der Welt den Monsieur Bip, er beschrieb seine Pantomime als „Schreie in der Stille“.
„Die Figur hatte ich schon als Kind im Kopf“, beschrieb er seine Idee, „ein romantischer Held, burlesk, hilflos und dennoch optimistisch wie Don Quixote.“
1949 gründete er seine eigene Theater gruppe, die Compagnie de Mime Marcel Marceau, und 20 Jahre später die International School of Mime. 1951 besuchte er Berlin für ein viertägiges Gastspiel. Es war zwei Monate lang ausverkauft. Berthold Brecht war einer der begeisterten Zuseher.
1955 gastierte er zum ersten Mal in den USA. Geplant waren zwei Wochen. Seine Vorstellungen waren sechs Monate lang ausverkauft. In San Francisco, Chicago Washington, D.C. und Los Angeles spielte er in großen, „Standing Room only“-Hallen, in denen aufgrund des Andrangs die Sitze entfernt wurden. Er traf dort seine Idole, Buster Keaton, die Marx Brothers, Stan Laurel und Oliver Hardy. 1967 kam es zu einem denkwürdigen Treffen mit Charles Chaplin auf dem Pariser Flughafen Orly, den er zeitlebens als sein großes Vorbild beschrieb.
Er spielte in einem Dutzend Filme, dar unter den Professor Ping in dem Science-Fiction-(Kult-)Film „Barbarella“ unter dem Regisseur Roger Vadim. Rowan Atkinson meinte, ohne die Inspiration seines Vorbilds Marceau hätte es keine Figur „Mr Bean“ gegeben. In Mel Brooks’ „Silent Movie“ sagt er: „No!“ am Telefon, auf die Bitte von Brooks, in seinem Stummfilm eine Rolle zu übernehmen. Es ist das einzige gesprochene Wort in dem Film.
Publikum
Doch all die Filme und Theaterstücke, die er produzierte, die Rollen, die er übernahm, seine späteren Gemälde und Bücher konnten den Erfolg seiner persönlichen Darstellungen nicht ersetzen. Marceau alleine auf der Bühne vor einer Gruppe jüdischer Kinder oder Hunderten Gäste in Abendkleidern und dunklen Anzügen – er fand immer den persönlichen Kontakt zu seinem Publikum. Der Schauspieler Anthony Hopkins und der Tänzer Rudolf Nurejew benannten ihn als den Künstler, von dem sie für ihre eigene Arbeit am meisten lernen konnten.
Der schweigsame Marceau war übrigens ein gefürchteter Interviewpartner, er ließ nie jemanden zu Wort kommen und dominierte jedes Gespräch. „Lass nie Pantomimekünstler sprechen“, sagte er immer wieder scherzhaft, „sie hören einfach nicht auf, zu reden.“
Mehrere Hundert Trauergäste versammelten sich 2007 auf dem Pariser Friedhof Père Lachaise zu seinem Begräbnis. Der ehemalige Oberrabbiner von Frankreich Renè Samuel Sirat sprach die Gebete vor einem Tisch, auf dem der Hut von „Monsieur Bip“ lag – mit einer roten Blume.