Es geschieht im Sportverein. Wenn Neuzugänge in die Gruppe aufgenommen werden und dieses Ereignis mit dem gängigen Initiationsritus zelebriert wird. Oder bei der Reinigung des Autos in der Werkstatt, wenn der Wagen langsam durch die Waschstraße geschoben wird, während sich Meister und Lehrling in seinem Inneren befinden. An Gelegenheiten, Männer, Burschen oder Buben zu missbrauchen, mangelt es nicht. Leider. Der Kontext variiert. Eines jedoch haben alle Vorfälle gemein: Sie erschüttern das Leben des Betroffenen grundlegend.
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Über ein Viertel der Männer wurden im Erwachsenenalter schon einmal sexuell belästigt. Das ergab eine im Jahr 2011 vom Österreichischen Institut für Familienforschung veröffentlichte Studie. Opfer sexueller Gewalt wurden knapp neun Prozent der Befragten. Die Bandbreite der Tatbestände reicht dabei von "intimen Berührungen" über "Nötigung zu sexuellen Handlungen" bis hin zu gegen den Willen des Betroffenen durchgeführtem Geschlechtsverkehr. Sexueller Missbrauch an Buben und Männern - eine Seltenheit? Leider nicht. Wie der Psychologe Mag. Hubert Steger von der Männerberatung Wien nur allzu gut weiß.
Während Mädchen sexuellem Missbrauch vor allem im familiären Bereich zum Opfer fallen, tragen sich die Übergriffe bei Buben seltener innerhalb der Familie, immer noch aber im sozialen Nahraum zu. Etwa im Sportbereich - beispielsweise beim Schwimmen, beim Fußball oder beim Klettern -, im Vereins- ebenso wie im schulischen Bereich, im Jugend- bzw. Erwachsenenalter dann in der Ausbildungsstätte oder am Arbeitsplatz. Initiationsriten in Sportvereinen zum Beispiel stellen einen für die Täter willkommenen Rahmen für sexuelle Gewalthandlungen dar. "Neuzugänge werden manchmal", so Steger, "vor der Gruppe entblößt, geschlagen, sexuell gedemütigt oder gar vergewaltigt."
Der Sportverein als Tatort
Ermöglicht werde dies durch die im Verein gegebenen Machtstrukturen, die von einer Generation zur nächsten weitergetragen würden. So kommt es, dass jene, die einst Opfer der Gewalthandlungen waren, eines Tages selbst zum Täter werden. So viel zum Sportverein, der allerdings nur ein Ort unter vielen ist, an denen es zu sexuellen Übergriffen kommen kann. Oben genannter Studie zufolge erlebt ein Drittel der von sexueller Gewalt betroffenen Männer diese in der Wohnung von anderen, 28 Prozent in Lokalen oder an ähnlichen öffentlichen Orten, ein Fünftel am Arbeits- oder am Ausbildungsplatz und ein Sechstel in der eigenen Wohnung.
Bei den Tätern handelt es sich meist um Männer. Meist. Denn bis zu 20 Prozent der Täter sind Frauen. Darunter Mütter, die sich an ihrem eigenen Sohn vergehen. Oder aber Frauen, die mitunter Alkohol, Tabletten oder K.o.-Tropfen einsetzen, um den Mann "fügig" zu machen. Er kann sich nicht wehren, ist der Frau mehr oder weniger ausgeliefert. Dieser Zustand wird von der Täterin ausgenützt. "Bis hin zur Vergewaltigung durch die Frau", schildert Steger. Der Mann erlebt dabei ein starkes Gefühl der Ohnmacht. Wobei die Frau als Täterin nicht dem weiblichen Rollenbild entspreche. Ebenso wenig wie der Mann als Opfer dem männlichen entspricht. Darum seien derartige Vorfälle für das soziale Umfeld oft schwer erkennbar.
Die Wenigsten machen eine Anzeige
Sexuelle Gewalt an Männern ist also keine Seltenheit. Dennoch wendet sich die Mehrzahl der Betroffenen nicht an die Polizei, geschweige denn an die Medien. Weil die Angst davor, dass der Vorfall öffentlich wird, zu groß ist. "Dadurch bleibt es im Verborgenen." Dem Experten zufolge ist der sexuelle Übergriff für den Mann "unglaublich beschämend. Man hat den Eindruck, dass der Betroffene durch ihn enorm aus der Bahn geworfen wird, selbst wenn er vorher ein stabiles Lebensumfeld hatte. Mit Beziehung oder Familie." Das Erlebte ist für ihn kaum benennbar. "Es braucht ganz viel Vertrauen, dass er darüber sprechen kann."
Vor allem Jugendliche erleben durch einen derartigen Vorfall eine große Verunsicherung. "Viele sind in ihrer sexuellen Identität stark erschüttert." Vor allem auch dann, wenn es bei ihnen während des Übergriffs zu einer Erektion kommt. Viele wüssten zu dem Zeitpunkt noch nicht, dass eine Erektion rein physiologisch bedingt sein kann. Ein Umstand, der vom Täter gerne ausgenutzt wird. Mit Verweis auf die körperliche Reaktion unterstellt er dem Betroffenen, dass die sexuelle Handlung von ihm selbst gewollt sei. Das macht es für den Betroffenen umso schwieriger, den Missbrauch als solchen einzuordnen, sich als Opfer zu sehen. Abgesehen davon, dass sich viele der Betroffenen gar nicht als solche sehen wollen.
Männlichkeitsideal steht Jugendlichen im Weg
Aus Angst vor negativen Reaktionen aus dem Umfeld hüllen sich viele Betroffene in Schweigen. Hinzu kommt, dass Burschen, während sie mit ihren körperlichen Veränderungen konfrontiert werden und Entwicklungsaufgaben bewältigen müssen, ein weniger breit gefächertes Männlichkeitsideal haben. "Ja keine Schwächen zeigen, funktionieren müssen - und auch wollen. Dieses Männlichkeitsideal steht ihnen wirklich im Weg", erklärt Steger. Es mache es für die Jugendlichen schwieriger, sich Unterstützung zu holen. Folglich müsse man ihnen erklären, dass es Teil der Männlichkeit wäre, Hilfe anzunehmen. Dass dies nichts Ungewöhnliches sei.
Viele von sexuellem Missbrauch in der Jugend Betroffene tun sich später mit Sexualität und Intimität schwer. Viele würden sich ein Leben lang um eine zufriedenstellende Beziehung bemühen, sich selbst dabei immer wieder als unzureichend erleben. Beziehungen würden teilweise als überfordernd, mitunter sogar als retraumatisierend erlebt. Besonders schwierig sei die Situation dann, wenn es in der Kindheit zu Übergriffen durch die eigene Mutter - die primäre Vertrauens- und Bezugsperson - gekommen ist. "Weil manches nicht oder nur mehr im Ansatz erinnerbar ist." Und mit der Erinnerung auch die Belastung, die jahrelang im Verborgenen geschlummert hat, an die Oberfläche tritt.
Aufarbeitung ist ein langer, schwieriger Prozess
Dementsprechend schwierig ist der Prozess der Aufarbeitung. "Oft merkt der Mensch: Irgendetwas war da." Lange Zeit würden Betroffene versuchen, alleine mit dem Problem zurechtzukommen. Nach vorne zu schauen. Dann, nach dem ersten Lebensdrittel, beginnt die Suche. Der Betroffene nimmt therapeutische Hilfe in Anspruch, hört nicht auf, sich dem Thema zu nähern, Erinnerungslücken aufzufüllen. "Das kann niemand nachvollziehen, der das nicht selbst erlebt hat", erklärt der Experte. Daher suchen Betroffene oft auch den Kontakt zu Menschen, die Ähnliches erlebt haben.
Es ist ein Ringen um die Wirklichkeit. Der unermüdliche Versuch sich sich zu erklären, was einst passiert ist. "Betroffene brauchen Unterstützung, tun sich aber oft total schwer, sie zu nehmen", weiß der Psychologe. Und so wünschenswert auch eine Gesellschaft ist, in der es keinen sexuellen Missbrauch gibt - gänzlich verhindern werden wir derartige Vorfälle wohl nie können. Was wir aber tun können, ist schon die Kinder im Bewusstsein stärken, dass es in Ordnung ist Nein zu sagen. Dass ihr Körper ihnen allein gehört. Und dass niemand außer sie selbst das Recht haben, über ihn zu bestimmen.
Hier finden Betroffene Unterstützung: Männerberatung Wien