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Lotte Tobisch: Vielleicht war sie die erste Influencerin

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Lotte Tobisch
©Bild: Wienbibliothek im Rathaus
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Drei Jahre nach ihrem Tod ist Lotte Tobisch im Bewusstsein des Landes immer noch vital genug für zwei erhellende Buch-Neuerscheinungen

Steckbrief Lotte Tobisch

  • Name: Charlotte "Lotte" Tobisch-Labotýn

  • Geboren am: 28. März 1926 in Wien

  • Gestorben am: 19. Oktober 2019 in Baden

  • Ausbildung: Franz Schubert Konservatorium

  • Beruf: Managerin, Schauspielerin und Autorin; Grande Dame der Wiener Society, Salondame

  • Familie: Tochter des Architekten Karl Tobisch-Labotýn (1897 - 1977) und Nora Anna Josefine Maria Krassl von Traissenegg (1906 - 2002); Witwe von Schriftsteller Erhard Buschbeck († 1960)

Ja, stimmt, viele Menschen werden neunzig, Tag für Tag und in weit größerer Zahl, als wir uns noch vor einem Jahrzehnt haben vorstellen können. Und in zehn Jahren werden mehr Menschen, als wir uns heute vorstellen können, Tag für Tag hundert werden. Aber diese besondere Generation weiser, beherzter Neunziger, die man fragen konnte, wenn sich die Welt nicht mehr auskannte: Die stirbt weg. Arik Brauer, der einer von ihnen war und quasi Minuten vor Ausbruch der Pandemie gestorben ist, hat die Magie seiner Generation so erklärt: Sie war schon alt genug, um die Nazi-Zeit noch miterlebt zu habe . Aber noch zu jung, um damals schuldig zu werden. So konnten sie unbelastet ihre Schlüsse ziehen. Brauer, dem das Pack den Vater ermordet hatte, weigerte sich bis an sein Ende, vor den paar schimmelnden alten Restnazis Angst zu haben. Was hätte er zu den jungen Neandertalern gesagt, die wenig später mit Judensternen auf der Brust durch österreichische Städte marodierten?

Oder wie hätte Hugo Portisch, dessen letzte Publikation "Russland und wir. Eine Beziehung mit Geschichte und Zukunft" * hieß, die Lage von heute kommentiert?

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Lotte Tobisch in jungen Jahren

 © Wienbibliothek im Rathaus

Lotte Tobisch, unsere bewunderte Kolumnistin

Wunderbar, dass Lotte Tobisch, die man erst im hohen Alter ernst zu nehmen begann, letztlich klarer gesehen hat als diese Heiligen des Durchblicks. Wieder und wieder erweist sich das bei der Lektüre der Biografie, die der Journalist Harald Klauhs in liebevoller, aber nichts beschönigender Recherche festgehalten hat. Dass Lotte Tobisch drei Jahre nach ihrem Tod immer noch inspirierend genug für eine gelungene Nachbetrachtung ist, freut insbesondere die News-Redaktion: Hier, in diesem Blatt, hat sie von 2015 bis fast zu ihrem Tod die Kolumne "Frau von Welt" geschrieben.

Die Stimme der Klugheit

Und da lesen wir, ganz aus der Zeit und darum so bedrängend wahr: "Unserer glorreichen fünfzigjährigen permanenten Schulreform ist es mit der ersatzlosen Abschaffung des Pflichtfachs Religion offenbar gelungen, dass bereits die zweite Generation von Schülern von der Welt, in der sie lebt, keine Ahnung hat: nämlich von den Wurzeln der Kultur-, Kunst- und Geistesgeschichte des jüdisch-christlichen Abendlandes. Ohne wenigstens eine Ahnung zu haben von den Mythen, Erzählungen, den wunderbaren Parabeln und der Dichtung des Alten und des Neuen Testaments, werden wir unsere europäische Identität unwiederbringlich verlieren. Wir sind dann wie die Flüchtlinge: unterwegs von irgendwo nach irgendwohin."

Oder das: "Dafür sind wir jüngeren, aufmüpfigen Frauen nicht nach dem Krieg in den Vierzigerjahren für Selbstbestimmung, Selbstentscheidung und Selbstverantwortung Spießruten gelaufen, dass jetzt eine Lobby von Minderwertigkeitskomplexlerinnen eine Gendercorrectnessdiktatur installiert!"

Ja, einmal hat sie danebengeschlagen. Vier Protagonisten der Zweiten Republik, sagte sie uns, hätten überragendes politisches Talent verkörpert, im Guten oder im Bösen: Leopold Figl, der nach dem Krieg unvergleichlich den Wiederaufbauösterreicher gab, verdrängungsselig beim Wein und im Steireranzug. Dann der ihr freundschaftlich verbundene Bruno Kreisky, der das Land in die Neuzeit führte. Dann Jörg Haider, der den alten, bösen Instinkten ein Zeitgeistgewand überzog. Und schließlich Sebastian Kurz, für den sie eine Schwäche hatte, weil er den alten Lurch seiner Partei aus dem Parlament gefegt habe, zu Zeiten, als man schon drauf und dran war, "jegliches Vertrauen in die Mandatare zu zerstören". Da sind ihr Ursache und Wirkung durcheinandergeraten, aber wer kann die heute noch unterscheiden?

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Lotte Tobisch mit Bruno Kreisky

 © Wienbibliothek im Rathaus

Lotte Tobisch starb am 19. Oktober 2019, 93 Jahre alt, im Badner Künstlerheim, das sie über Jahre mit Führungskompetenz und Leidenschaft geleitet hatte. Corona war damals noch nicht einmal ein chinesisches Gerücht. Ein paar Monate später hätte sie ihr Leben womöglich einsam auf der Isolierstation beschlossen: Sie war der Inbegriff einer Höchstrisikopatientin, denn sie litt an der Lungenpest COPD, die sie sich ein halbes Leben zuvor als Kettenraucherin eingefangen hatte. Nicht nur einmal stand nächtens der Notarzt in der Wohnung über dem Opernring, die Lotte Tobisch beharrlich allein bewohnte. Gegen den drohenden Erstickungstod, sagte sie einmal, helfe nur Kaltblütigkeit.

Welch eine Ansage! Die man ihr aber aufs Wort glaubte, denn sie hatte ohne Aufsehen zwei Krebserkrankungen überwunden und schien anschließend mit dem Tod einen Nichtangriffspakt geschlossen zu haben. So aufrecht, wie sie noch im hohen Alter durchs Leben ging. Bis Ende 2018 ein Bruch des rechten Handgelenks unheilvolle Entwicklungen nach sich zog. Unter dem Eindruck des Schocks und der Schmerzen brach der Krebs wieder aus, und die Therapie schwächte sie bedrohlich. Dass sie ihr langes, täglich von eigener Hand aufgestecktes Haar abschneiden lassen musste, weil die Rechte den Dienst versagte, sei das Schlimmste gewesen, sagte sie.

Die letzten Wochen der Lotte Tobisch

Oder doch das Zweitschlimmste? Als sie am Ende ihres Lebens die Wohnung verlassen musste, war es im Grunde schon vorbei. Denn in der geräumigen Zimmerflucht lebte die Erinnerung: an die einzigen Jahre, in denen sie ohne Wenn und Aber glücklich gewesen war. Sie war 22, als sie den um 37 Jahre älteren Burgtheater-Dramaturgen Erhard Buschbeck traf. Um Interessenkonflikte zu vermeiden, gab sie daraufhin -heute unvorstellbar - die sich hoffnungsvoll anlassende Schauspielkarriere am Staatstheater auf. Zwölf Jahre später half sie dem an Kehlkopfkrebs Verhungernden und Erstickenden beim Sterben. Einen Nachklang des Verlorenen konnte sie noch aufrufen, als sie sieben Jahre später die Lebenspartnerin des israelischen Botschafters Michael Simon wurde. Er war 20 Jahre älter und verdämmerte an Alzheimer, kaum dass man einander gefunden hatte.

Die Suche nach dem Vater

Das war es mit den Beziehungen, so gern der Kulturphilosoph Theodor W. Adorno, der von Frauen besessene Wegbereiter der Achtundsechzigerrevolte, auch zugelangt hätte. Natürlich habe sie in beiden Beziehungen den Vater gesucht, bekannte Lotte Tobisch auf Anfrage. Der Vater, ein Mitglied des altösterreichischen Bagatelladels, hatte sich früh aus der Familie davongemacht. Und als sich das Kind an den nächsten Vater gewöhnt hatte, war der als Jude schon vor den Nazis auf der Flucht. Als die Familie dem Chaos nach Kriegsende ins Tirolerische auswich, blieb die Tochter im besetzten Wien und begann eine Karriere, deren Beschaffenheit noch niemand ergründet hat. Der Opernball, dem sie zwischen 1981 und 1996 vorstand, kann es nicht gewesen sein. Sie selbst nannte sich einen lebenslangen Amateur.

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Lotte Tobisch mit Theodor W. Adorno

 © Wienbibliothek im Rathaus

Vielleicht war sie die erste Influencerin. Aber keiner von den inferioren Nassauern, die es darauf anlegen, kostenlos zu nächtigen und zu essen. Sondern eine wahre Autorität, eine Meinungsbildnerin von intellektuellem Format, die auf Freundschaften mit Elias Canetti und Bruno Kreisky zurückgreifen konnte. So wie wir Heutigen uns auf die Freundschaft mit Lotte Tobisch berufen dürfen.

Die Bücher:

Dame wider Willen: Die sieben Leben der Lotte Tobisch

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„Wiener Salondame? Ein Albtraum!“: Lotte Tobisch – Charme, Engagement, Courage

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Dieser Beitrag ist ursprünglich in der News-Printausgabe Nr. 45/2022 erschienen.

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