Ganz oben angelangt: Nach Anna Netrebkos vorläufigem Rückzug ist es dort, wo die Norwegerin Lise Davidsen logiert, jetzt noch ein Stück einsamer. An der Staatsoper sieht man sie in der furios besetzten Wiederaufnahme von Brittens "Peter Grimes"
Steckbrief
Name: Lise Davidsen
Geboren am: 8. Februar 1987 in Stokke, Norwegen
Wohnort: außerhalb Oslos
Sternzeichen: Wassermann
Ausbildung: Bachelor-Studium klassischer Gesang an der Grieg Akademie in Bergen, Master-Studium am Musikkonservatorium bzw. der Königlichen Opernakademie in Kopenhagen bei Susanna Eken, Meisterklassen bei u.a. Andreas Schmidt und Waltraud Meier
Beruf: Opernsängerin (Sopran)
Familienstand: vergeben
Anna Netrebko hat sich fürs erste aus dem Beruf verabschiedet. In einer Klinik wolle sie wieder zu Kräften kommen, ließ sie per Instagram wissen. Keine plastisch-chirurgischen Eskapaden wolle sie dort an sich verüben lassen. Nur wieder frei atmen, ohne "Quarantäne, Tests, Impfungen, Reisen, Restriktionen", die ihr die Freude an der Musik vergällt hätten. In der immer schütterer besetzten Welt der Primadonnen kommt die Nachricht einem kleinen Untergang gleich: Die Netrebko, mit 50 auf dem Hochplateau der Karriere, aber erstmals verhaltenen Buh-Rufen aus dem hysterischen Mailänder Publikum ausgesetzt, überlässt die Höchstliga auf unbestimmte Zeit der 40-jährigen Asmik Grigorian.
Sowie der nochmals um sechs Jahre jüngeren Norwegerin Lise Davidsen, die wenige Tage nach dem tonnenschweren Netrebko-Posting obligat mehrfachgetestet zum Interview in die Staatsoper eilt. Am 26. wird Brittens "Peter Grimes" in vergleichsloser Besetzung mit Jonas Kaufmann und Bryn Terfel wiederaufgenommen. Und Lise Davidsen ist ein keineswegs geringeres Atout als die beiden Superstars. Eher im Gegenteil.
"Ein bescheidener Preis"
Dass ihr die Freude abhanden kommen könnte wie der um 16 Jahre älteren Kollegin? "Ich kann klarerweise nicht kommentieren, was andere tun. Aber für mich ist all das ein bescheidener Preis dafür, dass ich tun kann, was ich liebe." Andererseits, fügt die eindrucksvolle Dame, ein wie von Wagner konzipiertes "kühnes, herrliches Kind", hinzu, müsse man schon verstehen, dass einen nach zwei Jahren Pandemie die Freude verlassen könne. "Meine Dankbarkeit für meine Arbeit jeden Tag aufrecht zu erhalten, ist nicht einfach. Aber ich funktioniere mit meinem Job besser, es geht mir besser, mein Seelen- und Geisteszustand wird besser, wenn ich singe. Wenn Sie meine Familie fragen, wird man Ihnen bestätigen, dass ich am glücklichsten bin, wenn ich arbeite. Ich bin gern bei ihnen und liebe meinen vierjährigen Neffen. Aber wenn man sich selbst entscheidet, Zeit zu haben, ist das besser, als wenn man durch monatelange Einschränkungen dazu gezwungen wird. Und ich war sechs Mal in Reise-Quarantänen, zwischen sieben und 14 Tagen!"
Fast schon obligat gehört sie auch dem höchstbesetzten Club der Covid-Genesenen an (auch die Kolleginnen Netrebko und Grigorian mussten sich dort einschreiben). Ganz zu Beginn der Pandemie war das, Anfang 2020, als es noch keine Regeln und Maßnahmen gab. Der Londoner "Fidelio", Jonas Kaufmann nicht ausgenommen, war quasi durchseucht, die Titelheldin konnte schon um die Generalprobe nichts schmecken und riechen und war müde zum Niedersinken. Aber das Rollendebüt war eine Sensation in letzter Minute, ehe alles geschlossen wurde.
Labiles Glück
Dass jetzt unter Einschränkungen und Vorbehalten wieder musiziert wird, ist ein labiler Glückszustand. Eine fünf Tourneestationen lange Kundgebung norwegischer Exzellenz - Lieder von Grieg mit dem Pianisten Leif Ove Andsnes als Begleiter - konnte der Omikron-Welle enttrotzt werden. Zuletzt im schwach besuchten Konzerthaus, so wie auch in den Theatern und in der Oper das Publikum zögert. Am Ring treten in diesen Tagen Juan Diego Flórez als Werther und die Grigorian als Manon Lescaut auf, Gergiev dirigiert "Pique Dame". Doch der Vorverkauf ist so schütter wie für den Aufsehen verdienenden "Grimes". Ob sich das Publikum am Ende von der Oper, dem Grundnahrungsmittel, zu entwöhnen droht? "Wenn wir in den März und den April gehen, werden die Leute wiederkommen, da bin ich sicher. Es ist nicht so, dass sie nicht kommen wollen. Aber sie haben Angst, sie wissen nicht, wie sicher die Tests sind und ob trotz Testpflicht auch wirklich jeder getestet ist. Die Situation ist überall verfahren." Auch fehlen die Touristen, gibt sie zu bedenken.
Sie selbst, sagt sie, dürfe nicht zu laut klagen, anders als viele Kollegen, die an den Rand der Existenz gelangt seien. Ja, freilich, ein "Ring" in Bayreuth, ein "Fidelio" an der "Met", der erste "Maskenball" in Oslo: Das waren schon herbe Ausfälle. Aber eine neue "Walküre" in Berlin ist sich zwischen zwei "Lockdowns" ausgegangen, der Grieg-Abend wurde zur fabulösen CD.
Lise Davidsen und der Weltpianist Leif Ove Andsnes verteidigen den gemeinsamen Landsmann Edvard Grieg gegen den ewigen Kitsch-Vorwurf. Liedkunst vom Feinsten (Decca)*
Und im Sommer 2021 trieb die Pandemie in Bayreuth eine Blüte von womöglich unwiederholbarem Zauber: Aus dem szenisch nicht zu verwirklichenden "Ring" wurde eine von Hermann Nitsch visualisierte Not-"Walküre" mit bühnenhohen Schüttbildern, die sich nach den Stimmungen der Musik verwandelten. "Nitsch saß an der Seite und kommandierte seine Assistenten, die ungeheure Mengen an Farben in Bewegung setzten. In der Generalprobe sah ich zum ersten Mal diese Farben herunterrinnen. Es war unglaublich, eine Erkenntnis, wie ein Kunstwerk ein anderes hervorbringen kann. "
Betörungskräfte
Dass Lise Davidsens Sieglinde das Ereignis des gut besetzten Abends war, wurde nicht einmal von harthörigen Kritikern in Zweifel gezogen. Der Jubel war schon anlässlich der "Tannhäuser"-Elisabeth im Sommer 2019 unermesslich. Solch eine Selbstentäußerung, solch ein Ausdruck, und welch eine Stimme! Dass die 1987 ins entlegene 11.000-Einwohner-Nest Stokke geborene Elektrikertochter früh zum Mezzosopran ausgebildet wurde, erwies sich als Glücksfall: Wie die gleichfalls ins dramatische Sopran-Fach aufgestiegene Mezzo-Kollegin Waltraud Meier betört Lise Davidsen mit einer weichen, großen, aus samtdunkler Tiefe bruchlos durch die Lagen leuchtenden Stimme, deren gleißende Schönheit auch in der forderndsten Höhe keinen Schaden nimmt.
Gut, dass die hoch riskante Brünnhilde im "Ring" noch warten muss, aber dass sich hier die nächste Isolde zu Wort meldet, kann niemand überhören. Bisher ging sie in der Wahl der Rollen restriktiv vor, wie auch nicht mit 34 Jahren, wenn man auf seriöse Vorbereitung Wert legt? Aber jetzt kommen die Amelia im "Maskenball" und an der "Met" die Marschallin im "Rosenkavalier". Über Isolde, Salome, Tosca, Elisabeth in "Don Carlo" wird schon branchenweit qualifiziert gemutmaßt.
Mozart? Ist vorbei. Zehn Jahre früher hätte sie dafür geboren werden müssen, als Mozart noch schwerer besetzt wurde. Das sagte man ihr, als sich anno 2015 das Tor zur Weltklasse öffnete: Damals gewann sie in einem Jahr die führenden Wettbewerbe "Operalia", ausgelobt von Placido Domingo, "Königin Sonja" in Oslo und "Hans Gabor" in Amsterdam.
Roscic: "Ein Fixstern der Staatsoper"
Mittlerweile jubelt man allseits. Staatsoperndirektor Bogdan Roscic: "Die Opernwelt wartet mit angehaltenem Atem auf ihre Isolde, Ihre Brünnhilde. Sie wird für viele Jahre einer der größten hochdramatischen Soprane, nicht nur unserer Zeit, sein. Klugerweise übereilt sie aber nichts und lässt ihrer Stimme die Zeit. Ein Fixstern der Staatsoper ist sie jetzt schon."
Und Bayreuths Intendantin Katharina Wagner, die mit dem "Tannhäuser" vielerlei in Bewegung gesetzt hat: "Als künstlerische Leiterin erfüllt es mich mit großer Freude und auch ein wenig Stolz, mit Lise Davidsen eine ganz außerordentliche Künstlerin in unseren Reihen zu wissen. Ihre Elisabeth und zuletzt auch Sieglinde waren herausragend, nicht nur wegen ihrer unglaublichen Stimme, die völlig selbstverständlich das Festspielhaus füllt, auch wegen ihrer von allen so geschätzten darstellerischen Fähigkeiten und positiven Ausstrahlung. Ich freue mich sehr auf die kommenden Festspieljahre, in denen sie eine entscheidende Rolle spielen wird."
Leben an der Grenze zum Biedersinn
Jetzt gilt es, Ruhe und Augenmaß zu bewahren, nichts zu überstürzen, der Stimme nichts womöglich Irreparables zuzufügen. Sie arbeite ständig an der Technik, sagt sie, und sei zum Glück keine übermäßig soziale Person, fast schon an der Grenze zum Biedersinn. Mit dem Lebensgefährten auf dem Land außerhalb Oslos ansässig, halte sie sich mit dem Alkohol zurück und sehe die Freunde lieber zu Hause, statt stimmschädlich das Geschrei im Restaurant übertönen zu müssen. Im verdunkelten Hotelzimmer der Vorstellung entgegenzumeditieren wie der unsterbliche Mario del Monaco? Fällt ihr nicht ein. "Ich versuche, vor Vorstellungen genug zu schlafen und mehr zu schweigen. Aber das ist ein winziger Preis dafür, hier 'Peter Grimes' zu singen. Wenn ich sehr nervös bin, gehe ich ins Fitness-Studio und dann nach Hause."
Der Glückstag der Impfung
Draußen vor der Oper bringt sich die Polizei in Kompaniestärke für die samstägliche Zusammenrottung der Impfpsychopathen in Stellung. Kennt man dergleichen in Norwegen auch? "Nicht jetzt und nicht auf diese Weise. Wir verwenden den grünen Pass nicht als Eintrittskarte. Und wir zwingen die Leute nicht, sich impfen zu lassen. Dafür", weist sie Wien mit zugelassenenen 2.000 Opernbesuchern als Paradies aus, "durften bis vor kurzem nur 20 Leute ins Theater, jetzt sind es mindestens 200. Deshalb wurde mein Liederabend in Oslo abgesagt, denn ohne Publikum ist er nicht finanzierbar. Ich habe mein Bestes getan, um Menschen zu verstehen, die sich nicht impfen lassen wollen, aber ich denke, es ist wirklich schwierig. Als ich meine erste Impfung bekam, war das ein großartiger Tag, so glücklich, so befreiend!"
Szenische Eskapaden
Das Gespräch kehrt zur Kunst zurück. Was erlaubt sie einem Regisseur? Hat sie jemals nein gesagt? "Nein, nie, aber ich hätte es tun sollen. Wenn ich etwas verstehe, ist alles möglich. Wenn es unverständlich ist, frage ich, und zwar so lange, bis ich es verstehe. Wenn ich am Ende aber immer noch keine guten Argumente vorfinde, wird es kritisch." Die Berliner "Walküre" unter Stefan Herheim, dem nächsten Direktor des Theaters an der Wien, war so ein Fall: Sieglinde und der ihr brutal aufgenötigte Ehemann Hunding haben da ein missgebildetes Kind, dem Sieglinde die Kehle durchschneidet, ehe sie mit ihrem Zwillingsbruder Siegmund flieht. Aber die beiden seien doch die einzigen reinen Menschen im "Ring", gibt Lise Davidsen zu bedenken. "Wenn man das zerstört, zerstört man alles! Sie ist dann ein Killer und nicht mehr das Symbol der Hoffnung und Erlösung!" Dies zu verstehen, habe einige Zeit in Anspruch genommen.
Die neue Korrektheit auf der Bühne? Othello, dessen Gesicht nicht mehr schwarz bemalt sein darf? "Nein, das geht nicht mehr, nie mehr! Wir sind weit genug, hoffe ich, um zwischen der Farbe und dem eigentlichen Zweck unterscheiden zu können. Othello kann schwarz sein, wenn der Sänger schwarz ist. Aber auch ein weißer Sänger kann ihn darstellen, ohne sich zu bemalen, ebenso muss die Sängerin der Butterfly nichts vortäuschen. Heute kann man eine Geschichte erzählen, ohne vorzutäuschen, dass man etwas ist, was man nicht ist. Wir sind weiß und privilegiert, und es ist unsere Aufgabe, auf die anderen zu achten. Wenn wir die Oper als unsere weltweite Kunstform betrachten, werden wir jeden einschließen müssen."
Noch etwas? Ja, aus Salzburg rührt sich seit einem Vorsingen für ein dann storniertes Projekt nichts mehr. Aber mit Klaus Bachler, demnächst bei den Osterfestspielen, habe sie eine Geschichte aus seiner Münchner Zeit, da sei einiges zu erhoffen.
Ende des Gesprächs. Es wird guttun, draußen die Masken abzunehmen.
Der Beitrag ist ursprünglich in der News-Printausgabe Nr. 3/2022 erschienen.
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