Am Sonntag, dem 19. Mai 2024, verabschiedete sich Jürgen Klopp als Trainer vom FC Liverpool. Er holte mit den Reds den Champions-League-Sieg und gewann die Premier League. Jetzt macht er ein Jahr Urlaub. „Ab heute bin ich einer von euch“, so Klopp zu 60.000 Fans, die ihn feierten wie einen der Beatles. Was macht den Deutschen zur Liverpool-Legende?
Am Tag vor seinem letzten Spiel als Liverpool-Trainer eröffnete Jürgen Klopp einen Account auf Instagram. Er sei kein Social Media Guy, sagt er, aber das Insta-Konto soll ihm helfen, mit der Stadt, dem Team und den Fans – die alle Heimat für ihn wurden – in Kontakt zu bleiben. Innerhalb von zwölf Stunden gewann „The normal one“ 1,1 Millionen Follower. Vier Tage später bei Redaktionsschluss waren es 2,4 Millionen.
Es ist das spektakuläre Zeugnis einer „Liebesbeziehung“ –, so Klopp über sich und den FC Liverpool –, wie sie selbst im emotionsgetriebenen Fußball selten geschrieben wird. Sogar Fans ärgster Konkurrenz-Clubs ziehen online wortreich den Hut vor dem Ausnahmetrainer. Zum Antritt am 8. Oktober 2015 gab der Deutsche aus Glatten im Schwarzwald die Richtung vor: „Es ist nicht wichtig, was die Menschen sagen, wenn du kommst, viel bedeutender ist, was sie sagen, wenn du gehst.“
Den Grundstein zur Legendenbildung legte Klopp in seiner Antritts-Pressekonferenz. Auf die Frage, wie er sich selbst sehen würde und ob er sich ein ähnliches Markenzeichen verpassen würde wie José Mourinho, der sich beim FC Chelsea-Debüt mit „I’m the special one!“ vorgestellt hatte, sagte Klopp: „I am the normal one.“ Die eigene Bedeutung stellte er hinten an: „Ich komme aus dem Schwarzwald. Ich war ein durchschnittlicher Spieler und in Mainz habe ich als durchschnittlicher Trainer angefangen. Ich habe jetzt einen guten Moment genutzt, um in Liverpool anzufangen.“ Im Feld übergroßer Egos weist Klopp sein Selbstverständnis als Ausnahme aus.
Ein Abschied wie ein CL-Sieg
Nach fast neun Jahren bei Liverpool bilanziert der 56-Jährige, der im Jänner seinen vorzeitigen Abschied wegen Ermüdungserscheinungen bekannt gab, mit 491 Spielen, acht Titeln, darunter die Champions League 2019 und die Premier League 2020. Zum letzten Spiel in der Anfield Road gegen die Wolverhampton Wanderers musste sich der Teambus am Weg zum Stadion im Schritttempo durch Menschenmassen und rote Rauchschwaden kämpfen. Der 2:0-Sieg der Reds war Nebensache.
Ein letztes Mal lauschte Klopp der legendären Hymne „You‘ll Never Walk Alone“, sichtlich ergriffen, die Fans im Blick und die Hand auf der Brust. Seine Frau Ulla sang auf der Tribüne mit. Sportlich ging es um nichts mehr. Nach dem frühen Ende der Premier-League-Titelträume und dem Aus in der Europa League beendete Liverpool Klopps Abschiedssaison mit dem Gewinn des Ligapokals. Platz drei in der Premier League bedeutet die Rückkehr in die Champions League.
Aus Zweiflern wurden Gläubige
Die viel wichtigere Bilanz aus Klopps Zeit in der Anfield Road verrät ein Abschiedsvideo zu seinen Ehren auf seinem Insta-Konto. „Aus Träumen wurden Erinnerungen gemacht. Jungs sind zu Männern gewachsen und aus Zweiflern wurden Gläubige“, heißt es da. Klopp formte eine Mannschaft, die an sich glaubt und an die die Fans glauben. Selbst dafür verweigert er die Lorbeeren: „Ich habe sie nicht dazu gebracht, an den Erfolg zu glauben, ich habe sie nur daran erinnert, dass es hilft, wenn man daran glaubt“, so Klopp in seiner Abschieds-Pressekonferenz.
Er bekäme seit ein paar Wochen zu viel Aufmerksamkeit, sagte er vor 60.000 Fans, bevor er in einen einjährigen Urlaub aufbricht. Im Anschluß bewies er, dass sein Sager, er sei nun nur noch ein Fan („Ab heute bin ich einer von euch“) genauso gemeint ist. Lautstark sang er den Namen seines Nachfolgers, des 45-jährigen Niederländers Arne Slot vom niederländischen Vizemeister Feyenoord aus Rotterdam. „Aaaarne Slot! Stellt Euch vor, die nächste Saison beginnt. Ihr sollt nicht darauf warten, was passiert. Nein, ihr begrüßt den neuen Trainer, so wie ihr mich begrüßt habt. Ihr geht gleich am ersten Tag All-In. Und wenn es hart wird, glaubt ihr weiter daran. Und wenn es schwierig wird, glaubt ihr weiter daran. Und treibt die Mannschaft an. Und ihr wartet nicht auf ein Tor oder was auch immer.“
Klopps Faible für klare Worte waren neben seiner Bescheidenheit der Boden, auf dem seine Legende wachsen konnte. Im Abschiedsvideo auf Instagram lässt er einmal mehr tief blicken:
Klopp über seine Liebe zu Liverpool:
„Ich liebe absolut alles an diesem Club, an dieser Stadt, ich liebe die Fans und das Team. Nach allem, das wir in den gemeinsamen Jahren zusammen erlebt haben, ist der Respekt gewachsen und die Liebe ist gewachsen. Ich bin als ganz normaler Typ hergekommen und der bin ich immer noch. Ich lebe nur kein normales Leben. Ich fühle mich hier nicht nur zu Hause, ich bin hier zu Hause. Wir haben gezeigt, was man durch echten Zusammenhalt erreichen kann. Es ist schwer, Abschied zu nehmen, aber lasst uns die guten Zeiten in Erinnerung behalten. Ich tue das, für immer. Ich werde euch nie vergessen und ich werde euch wie die Hölle vermissen.“
Welche Erfahrungen Klopps Denkart formten, beschreibt er selbst nirgends besser als im Podcast „Hotel Matze“ des deutschen Medienunternehmers und Buchautors Matze Hielscher, der vor knapp einem Jahr im Juli 2023 erschienen ist. Im über zweistündigen Gespräch lassen die beiden kaum eine Station im Leben der Fußballtrainer-Legende aus. News bringt prägnante Auszüge.
Jürgen Klopp im Podcast „Hotel Matze“ über ...
Die Kindheit im Schwarzwald
„Wenn man mich fragt, wo ich herkomme, aus der Gemeinde Glatten eben, fällt mir sofort ein, dass die Kindheit ein absoluter Traum war. Die Jugend wurde dann ein bisschen anstrengend, weil es schwierig war, von A nach B zu kommen. Im Schwarzwald war es damals so, wenn du den Bus verpasst hast, bis du gelaufen. Fertig. Das klingt, als wäre es direkt nach dem Krieg gewesen, das war es nicht. Es war so in den spätern 70ern. Ich wurde total geprägt davon, dass ich machen konnte, was ich wollte, im Sinn von mich ausleben als Kind. Ich würde jeder Familie empfehlen, die Kinder auf dem Land großzuziehen. Ich fand es ganz, ganz toll.“
Das Gefühl von Heimatstolz
„Habe ich nicht so richtig. Vielleicht entwickelt man den später, ich bin mit 20 schon weg. Ich weiß nicht, ob das, wenn ich noch geblieben wäre, dann gekommen wäre. Aber das habe ich nicht so richtig. Ich bin total gerne Deutscher. Ich empfinde es als großes Glück, da haben wir alle Glück gehabt, dass wir nicht anderswo auf die Welt gekommen sind. Aber ich empfinde keinen Stolz darauf, sondern ich mag es. Jetzt lebe ich in England seit acht Jahren. Die sind so ähnlich. Wettergegerbt, T-Shirt-Wetter beginnt bei neun Grad und Windstärke 20, das haben wir nicht. Und sie werfen mehr Minze ins Essen, aber ansonsten sind sie uns schon sehr ähnlich.“
Worauf er stolz ist
Ich habe den ganzen Sommerurlaub mit der Familie verbracht, also meiner Frau, unseren beiden Söhne und deren Familien und war total stolz auf beide Jungs. Weil ich das Gefühl tatsächlich nicht oft habe, ist es mir so extrem aufgefallen. Was für tolle Kerle das einfach geworden sind! So selbstständig, können sich über alles unterhalten, haben nicht über alles die gleiche Meinung. Und trotzdem sind sie vernünftig, haben gesunden Menschenverstand. Da dachte ich so, das haben wir echt gut hingekriegt. Also wir sind ja Patchwork, logischerweise. Die beiden sind auch nicht blutsverwandt, aber sie empfinden sich als Brüder. Ich weiß nicht genau, wie Ulla das hingekriegt hat, aber das ist sensationell.
Die Wahrnehmung von außen
Je unwichtiger das einem ist, desto eher kann man man selbst sein. Das ist eines meiner wenigen Talente, dass ich tatsächlich frei davon bin. Also ich mag schon auch lieber, dass mich die Leute mögen. Aber da ich es ja nicht beeinflussen kann, kümmere ich mich auch nicht darum. Ich kann ja nicht jedem nach dem Mund reden, da ist der Tag nicht lang genug. Ich versuche einfach, mich in so einem legalen Rahmen zu bewegen, mit dem, was ich sage, dass ich nicht allen ständig auf den Füßen stehe. Die Lehre, die man daraus zieht, das habe ich schon ein paar Mal gesagt, ist: Was wäre das denn für eine Welt, wenn es nur Gewinner gäbe? Kann ja nicht sein. Es muss auch welche geben, die mal verlieren. Es muss vor allem auch welche geben, die es immer wieder versuchen. Ich habe gar kein Problem damit, zu der Gruppe zu gehören. Mein Leben ist viel besser, als ich mir jemals hätte vorstellen können. Und, dass ich ab und zu ganz große Niederlagen erlebt habe und sich das wirklich ganz schlimm anfühlt, ist in dem Moment nicht cool. In der Gesamtbetrachtung hat es keine Relevanz. Jetzt bin ich heute hier reingekommen, wir haben uns begrüßt und du hättest nicht gedacht, hier ist der dreimalige oder einmalige Champions-League-Gewinner Jürgen Klopp. Das ist völlig wurscht. Es wird nicht auf dem Grabstein stehen. Es geht darum, dass du versuchst, so erfolgreich wie möglich zu sein, solange du es machst. Aber im Rückblick hätte ich gerne, dass die Leute sagen: War ein echt netter Kerl. Und nicht: Hat die Champions-League 24-mal gewonnen. Das ist mir völlig wurscht.
Prägende Kindheitserinnerungen
Damals gab es im Schwarzwald eine klare Rollenverteilung. Mein Vater hat abends um 11 Uhr auf der Couch gesessen, damit er mal da war. Wenn der sagte, ich krieg jetzt Hunger, kam da nicht: Dann mach dir doch was. Der Satz war noch nicht zu Ende gesprochen, war meine Mutter schon auf den Beinen. Ich wusste nur, wo die Küche ist, weil da der Geruch herkam. Ich musste da nicht abtrocknen oder so. Wir haben vorhin über Stolz gesprochen, wahrscheinlich bin ich ein bisschen stolz darauf, dass ich mich nicht zum kompletten Vollidioten entwickelt habe, obwohl ich so groß gezogen wurde. (...) Das andere, das mich geprägt hat, war, dass wir uns ganz viel draußen bewegt haben. Ich hatte viele Freunde, und sobald das Wetter auch nur halbwegs okay war, waren wir draußen und haben uns körperlich ausgetobt. Und jetzt kam etwas dazu, was komplett komisch war, weil es in meiner Familie sonst keiner wirklich gemacht hat: Sobald das Wetter nicht so gut war, hab ich mich sofort in mein Zimmer zurückgezogen, ich habe es geliebt zu lesen. Und mir ist nicht vorgelesen worden als kleines Kind oder sonst was. Ich habe Glück gehabt, meine Tante hat mir zu Geburtstagen Bücher geschenkt, Karl May und solche Dinge. (...) Ich weiß gar nicht, ob man das noch sagen darf, aber ich hab ganz oft gedacht, wahrscheinlich hat mich Winnetou erzogen. Weil einfach klar war, wer sind die Guten, wer sind die Bösen. Und was machen die Guten? Die stellen sich vorne hin und kriegen die Pfeile ab, während die anderen hinten sich noch ein bisschen in den Hecken verstecken.
Der Unterschied zwischen dem Start bei Mainz 05 und Liverpool
Der größte Unterschied ist natürlich, dass ich damals vermutet habe zu wissen, was ich mache, war mir aber nicht sicher und heute bin ich mir da viel sicherer, weil ich vieles schon schon mal gemacht habe und einfach weiß, wie es geht. Ich bin tatsächlich über Nacht zum Trainer geworden. Ich war Spieler und bin Trainer geworden. Und das Problem am Beruf ist, dass es ganz wenige Leute gibt, die du fragen kannst. Wenn du das zu häufig machst, dann wirst du zu einer 1-B-Version von diesen Leuten, das macht auch nicht richtig Sinn, dazu bist du zu oft alleine in der Verantwortung. Du musst aber vor der Mannschaft sofort so auftreten, als wüsstest du ganz genau, was du da machst. Das war rückblickend super witzig, weil das kann ich gut und die Spieler wollten auch zuhören. Und ich wusste ja, was ich machen wollte, ich wusste nur nicht, ob es klappt.
Die Aufgabe eines Fußballtrainers
Die Spieler und damit die Mannschaft besser zu machen. Da gibt es unterschiedliche Wege hin. Das ist die wie Frage von Huhn und Ei. Wird der Spieler besser, weil die Mannschaft besser spielt oder umgekehrt. Wird ein x-beliebiger Spieler in einer tollen Mannschaft automatisch besser? Wie läuft das genau? An allem ist ein bisschen Wahrheit dran. Die Qualität deiner Mitspieler hilft auf jeden Fall. Im Grunde musst du als Cheftrainer ein Rundum-sorglos-Paket liefern. Es ist wichtig, wie du mit den Einzelnen umgehst, wie du mit der Gruppe umgehst. Es ist aber auch wichtig, wie du auf dem Platz und mit denen außenrum umgehst. Es ist wichtig, dass du nachvollziehbar bist, dass die Dinge, die du sagst, konsequent durchgezogen werden. Und wenn nicht, dann musst du erklären, warum nicht. Ich muss mich auf allen Ebenen, so verstehe ich das, um den Spieler kümmern. Das geht ja nicht von meiner Seite aus aktiv, weil dazu sind es zu viele, aber ich muss die Jungs wissen lassen, dass, wenn eine Situation kommt, in der man sich besonders kümmern sollte, dass die dann wissen, okay, ich kann zum Boss und mit dem darüber reden. Der ist viel älter, viel weiter, ist mit den meisten Abwassern gewaschen, der weiß da wahrscheinlich ein bisschen was drüber. Weil mein Interesse ist natürlich, dass die Jungs in ihrer absolut besten Verfassung sind.
Die Lebensphilosophie All-In
Warum soll man denn nicht All-In gehen, es mit allem versuchen, was man hat? Der einzige Grund, der einen davon abhalten könnte, wäre, dass es mehr wehtut, wenn man scheitert. Und darum kümmere ich mich, wenn es so weit ist. Bis dahin kann ich nur All-In. Ich lebe jetzt im achten Jahr in Liverpool. Man stelle sich vor, ich würde mich da immer noch als Gast fühlen, das wäre kompletter Blödsinn. (...) Ich spiele da auch niemandem etwas vor, ich will das für mich haben, dass ich mich so verbinde. Das Leben ist eine Ansammlung von kleinen Geschichten, um eine große Geschichte daraus zu machen. Und beim Zurückblicken, verdammt nochmal, kriegen wir das Grinsen nicht aus der Fresse. Das ist so der Plan. Das geht nur, wenn du alles reinpackst und alles mitnimmst. Hoch. Tief. Und am Ende hoffentlich gesund bleibst und dann guckst du dir deinen eigenen Film nochmal an.
Der Podcast Hotel Matze: Zwei Stunden Klopp pur
Seit 2016 betreibt der 45-jährige Deutsche Matze Hielscher seinen Podcast „Hotel Matze“, in dem er Menschen trifft, die ihn interessieren, „um herauszufinden, wie die so ticken“. Das Format lebt vom einfühlsamen Interviewer und dessen echtem Interesse. Zu hören auf Spotify und allen gängigen Podcast-Plattformen.
Dieser Beitrag ist ursprünglich in der News-Printausgabe Nr. 21/2024 erschienen.