Die kurze Pause nach dem Passtraining nutzen Zineb Birouk und Aya Mousaid dafür, mit jeweils einem Fußball vor der Kamera im Freestyle zu tricksen. Ihre weißen Trikots reichen den elfjährigen Spielerinnen der U15 beinahe bis zu den Knien, was ihrer Bereitschaft zu komplizierten Bewegungsabläufen keinen Abbruch tut. Schließlich überwiegt der Stolz, das Wappen ihres Vereins Olympique Club de Safi tragen zu dürfen - einen kurios deformierten Haifisch über einer angedeuteten Stadtmauer -, jede Bequemlichkeit.
An der nördlichen Längsseite des Platzes haben derweil die U17 und das vor allem aus 18-Jährigen bestehende Frauenteam in passenderen rot-schwarzen Trainingsanzügen eine Schlange gebildet. Der Fitnesstrainer, den sie wegen seiner gefürchteten Begeisterung für den Unterarmstütz nur Monsieur Ganage nennen, hat dort Hütchen, Leitern und Bänke postiert. "Yallah, yallah!", rufen sich die jungen Frauen zu, während jeweils zwei von ihnen durch den Parcours eilen.
Geschichte der Akzeptanz
Hanane Jerid, 36, ausgestattet mit Schirmmütze und Trillerpfeife, überblickt das Geschehen zufrieden. Nichts von dem, was an diesem milden Freitagnachmittag Ende Dezember auf dem besten Trainingsplatz des Profiklubs OCS vor sich geht, ist für die Cheftrainerin des Frauenteams eine Selbstverständlichkeit. Nicht, dass die Mädchen das Naturrasenfeld beanspruchen dürfen oder dass es für sie einen festen Trainerstab und sogar einen Zeugwart gibt. Nicht, dass ein von Männern geleiteter Fußballverein ernsthaftes Interesse an der Förderung talentierter Spielerinnen zeigt, nicht einmal, dass man sie mitspielen lässt. Nicht, dass es immer weniger Marokkaner als Schande betrachten, wenn Frauen im öffentlichen Raum körperkontaktintensiven Sport betreiben und dabei gar nackte Knie und Ellbogen zeigen. Und nicht, dass die Presse darüber berichtet.
"Wir haben uns das Recht, Fußball spielen zu dürfen, erkämpfen müssen", sagt Jerid. In den Straßen und Gassen von Safi, eine für ihren gesundheitsgefährdenden Phosphatabbau und ihre Konservenfischproduktionen bekannte Hafenstadt an der Atlantikküste, hat sie in den frühen 1990er-Jahren als junges Mädchen zu kicken begonnen - vor allem mit Jungen. "Ich habe immer wieder vergessen, dass ich ein Mädchen bin, bis andere mich daran erinnert und mich ausgeschlossen haben." Da es in der Region damals keinen Verein gab, der nur in Erwägung gezogen hätte, Mädchen aufzunehmen, gründete Jerid mit weiteren Spielerinnen und unterstützenden Eltern im Jahr 2000 den Club Espoir Safi - benannt nach der Hoffnung. Später verließ sie die Region, um mit einem größeren Verein in der 2007 gegründeten landesweiten Frauenliga anzutreten. Nach einem Englischstudium erwarb Jerid zwischen lauter Männern eine Trainerlizenz, "weil wir Frauen dem Fußball viel zu geben haben", wie sie sagt.
Entwicklungsarbeiten fördernder Männer
Dass sich Jerid zu Beginn des Jahres vom größten Klub ihrer Heimatstadt anheuern ließ, um, endlich, seinen Frauenbereich aufzubauen, begründet sie mit dem Zugang des Technischen Direktors Azzedine Belkebir. Man müsse die Basis aufbauen, sagt dieser immer wieder in seinem Büro am Trainingszentrum, das ihn mit einer Sammlung von Pokalen, mit Fotos von historischen Kampfmannschaften und einer Collage aus Abbildungen von Mohammed VI., dem regierenden König Marokkos und einem anerkannten Frauenförderer, umgibt. Belkebirs junges Interesse an der weiblichen Basis kommt nicht von ungefähr: Vor fünf Jahren verabschiedete der marokkanische Verband unter seinem neuen Präsidenten Fouzi Lekjaa einen Entwicklungsplan für den Fußball der Frauen. Diesem folgend gehört für Klubs, die ein Männerteam in der ersten Liga Botola Pro 1 stellen, seit dieser Saison ein Frauenteam zu den obligatorischen Lizenzbedingungen. Wer zusätzlich zwei Nachwuchsteams für Mädchen einrichtet, erhält vom Verband eine jährliche Förderung in Höhe von zehn Millionen Dirham, umgerechnet 900.000 Euro.
Jerid will sicherstellen, dass wenigstens ein Teil davon in Honorare für die Spielerinnen der Ü18 fließt, die ab der Saison 2023/24 um die regionale Meisterschaft kämpfen sollen. Statt von Fußballerinnen zu verlangen, unentwegt Dankbarkeit für die Chancen zu zeigen, die ihren Vorgängerinnen jahrzehntelang illegitimerweise verwehrt worden sind, spricht Jerid von Anerkennung. "Die Mädchen sollen mehr Möglichkeiten haben, als ich sie hatte", sagt sie. Damit sich Spitzenleistungen zukünftig auszahlen, hat Marokko im Gegensatz zum überwältigenden Großteil der europäischen Länder die Professionalisierung der ersten und zweiten Frauenliga forciert. Der marokkanische Verband übernimmt die Gehaltszahlungen an alle Spielerinnen und die Trainerteams - ein internationales Novum im Spitzenfußball der Frauen, der kaum existenzsichernde Kollektivverträge kennt. Vom Fußball wenigstens eine Zeitlang bescheiden leben zu können, scheint für Frauen in Marokko keine absurde Illusion mehr zu sein.
Starke Leitfiguren
Auf dem Naturrasen-Trainingsplatz vom OCS, der normalerweise der männlichen Kampfmannschaft vorbehalten ist, hat Torfrauentrainer Ayoub Biaz inzwischen eine Mauer aus Freistoßdummies aufgebaut. Nun lässt er, abwechselnd Anweisungen gebend und schießend, fünf Mädchen so lange immer wieder antreten, bis sie einen Ball nach seinen Vorstellungen gesichert haben. Die 16-jährige Hiba Bessbassi, die einen Hijab trägt, rappelt sich zum fünften Mal auf und stöhnt. "Ich will mich ständig weiterentwickeln", wird sie später im Besprechungsraum sagen. Zumal Bessbassi gegen jene antritt, die sie zu verunsichern versuchen. Unter ihren Freundinnen und Klassenkameraden seien es die Mädchen, die immer wieder ihre Fähigkeiten anzweifelten. "Ich weiß aber, dass ich es kann, und höre nicht auf sie."
Zu ihren fußballerischen Vorbildern, die die Mädchen auf Nachfrage nennen, zählen Spieler derjenigen marokkanischen Auswahl, Atlas-Löwen genannt, die bei der Männer-WM in Katar sensationell das Halbfinale erreichte: Achraf Hakimi, Bono und der ehemalige OCS-Spieler Abderrazak Hamdallah. Aber auch: Hope Solo, langjährige erste Torfrau der US-Amerikanerinnen, sowie die Kapitänin, Rekordtorschützin von Marokkos Frauennationalteam und zuletzt Gewinnerin der vom afrikanischen Fußballverband CAF veranstalteten Champions League - Ghizlane Chebbak.
Versteckter Klassiker
Chebbak, 32, tritt fünf Tage später im weißen Jersey ihres Klubs, des marokkanischen Serienmeisters AS Far aus der Hauptstadt Rabat, ergänzt um die Kapitänsbinde, aus einer renovierungsbedürftigen Kabine. Der Atlantikwind trägt neben Verkaufsgeschrei eine deutliche Fischnote auf den zertretenen Rasenplatz. Angrenzend an eine mit Wellblech überdachte Markthalle und straßenseitig versteckt hinter einem Bürokomplex findet sich in Rabats südwestlichem Stadtteil Yacoub Al Mansour eine Tainingsanlage für den Nachwuchs des Lokalrivalen Fath Union Sport, genannt Fus. Dass die Kampfmannschaft hier und heute im traditionellen Stadtderby antreten werde, nein, haben mehrere Anwohner kopfschüttelnd angegeben, davon wisse man nichts. Auf dem offiziellen Instagram-Account von AS Far ist das Spiel, das auf diesen Mittwoch verschoben worden ist, gegen 11 Uhr, eine Stunde vor Anpfiff, erstmals angekündigt worden. Bis zur Halbzeit werden sich 50 Zuseher auf der Tribüne einfinden.
Für den AS Far ist es das vierte Spiel innerhalb von zwölf Tagen. Hart werde es, haben sich die Spielerinnen um Chebbak vorher gesagt, und vermutlich nicht schön, außerdem durch die Löcher im Rasen potenziell gefährlich. Aber der Sieg ist wie immer gesetzt. Co-Trainerin Fatiha Laassiri hat der Kapitänin noch kurz vor Spielbeginn einige taktische Anweisungen mitgegeben. Dass es der Mannschaft nach einem Treffer in der vierten Minute kaum mehr gelingen will, Torgefahr zu entwickeln, veranlasst Cheftrainer Amine Alioua zweimal dazu, wütend eine volle Wasserflasche in die eigene Bank zu schießen. Nachdem er mehrere Spielzeiten lang für das U23-Männerteam von AS Far verantwortlich war, arbeitet Alioua schließlich jetzt mit den Besten des Landes: Neben Chebbak und Torschützin Hanane El Haj sind acht weitere Spielerinnen im aktuellen Frauenkader Stammkräfte im Nationalteam.
Traumspiele
Die Atlas-Löwinnen haben 2022 Historisches erreicht. Nach 20 Jahren erfolgloser Qualifikationsteilnahmen traten Chebbak und ihre Kolleginnen beim Africa Cup of Nations, hier Can genannt, an. Das traditionell von süd- und westafrikanischen Nationen dominierte Turnier wurde erstmals in einem nordafrikanischen Land ausgetragen: Marokko. Während zeitgleich bei der Europameisterschaft in England das österreichische Team Frauenfußball-Großmacht Norwegen hinter sich ließ, belebten die Marokkanerinnen mit drei Siegen aus drei Spielen in der Gruppenphase einen kollektiven Traum ihrer Landsleute wieder, den einst der Männerfußball wahrgemacht hatte.
1976 gewann Marokko zum ersten und bislang einzigen Mal im finalen Elfmeterschießen gegen Guinea den Africa-Cup der Männer. Essenziell im Wunderteam, darüber ist man sich bis heute in Marokko einig, war Linksverteidiger Larbi Chebbak. Seine Tochter sollte 2022 nicht nur als Torschützenkönigin, sondern auch als beste Spielerin des Turniers ausgezeichnet werden. Nach einem Viertel- und einem Halbfinalsieg gegen Botswana und den elfmaligen Gewinner und Titelverteidiger Nigeria scheiterten die Marokkanerinnen erst im Finale knapp an Südafrika. 51 000 Menschen kamen am 23. Juli ins Prinz-Moulay-Abdallah-Stadion in Rabat, um vor allem das Heimteam anzufeuern. Bereits mit dem Halbfinaleinzug hatten sich die Marokkanerinnen für die Weltmeisterschaft im Juli und August 2023 in Australien und Neuseeland qualifiziert und damit die erste WM-Teilnahme eines nordafrikanischen und eines arabischen Landes erwirkt. "Ich lebe den Traum", sagte Chebbak vor etlichen Kameras in der Mixed Zone.
FAKTEN zur Fußball-WM der Frauen 2023
Zeitraum
20.07.-20.08.2023
Austragende Länder
Australien, Neuseeland
Anzahl qualifizierter Teams
32
Erstmalige Teilnahmen
Haiti, Irland, Marokko, Panama, Philippinen, Portugal, Sambia, Vietnam
Übertragende TV-Sender
ORF1, ARD, ZDF
Marokkos Spiele in Gruppe H
30.07., 6:30 Uhr (MESZ)
Adelaide (AUS) Südkorea -Marokko
24.07., 10:30 Uhr (MESZ)
Melbourne (AUS) Deutschland -Marokko
03.08., 12:00 Uhr (MESZ)
Perth (AUS) Marokko -Kolumbien
Weltweite Strukturschwächen
Vor Turnieren zieht das Nationalteam der Frauen inzwischen selbstverständlich zur Vorbereitung ins 2010 eröffnete, modernste Trainingszentrum des Landes in Salé bei Rabat. Die 14 Teams in Marokkos erster Frauenliga, so führt es das Derby Fus gegen Far vor, arbeiten deshalb noch lange nicht unter konsequent professionellen Bedingungen. "Wo ist Arryadia?", fragt Mohamed Amine Khabbaz, ein 21-jähriger Sportstudent, der das Spiel von der Tribüne aus beobachtet. Der öffentlich-rechtliche Sportsender, der die Übertragungsrechte für die erste Liga der Männer hält, habe im Frauenbereich lediglich die Spiele von AS Far in der Champions League und die des Nationalteams im Afrika-Cup gezeigt. Dass Arryadias mangelndes Engagement mit Zugeständnissen an eine überalterte, rückwärtsgerichete Zuseherschaft zusammenhängt, hält Khabbaz nicht für ausgeschlossen.
Im Jahr 2023, das FIFA-Präsident Gianni Infantino anlässlich seiner Wiederwahl als "das Jahr der Frauen" ausrief, denen "mehr Aufmerksamkeit" zustünde, ist Marokkos Frauenfußballpolitik nicht nur im Vergleich mit anderen arabischen Nationen als durchaus progressiv zu betrachten. Um die Auflagen für die WM-Vergabe zu erfüllen, gründete etwa Katar 2010 erstmals ein Frauennationalteam und heuerte dafür die ehemalige deutsche Fußballerin Monika Staab als Trainerin an, die zwei Jahre später durch einen arabischsprachigen Mann ersetzt wurde. Wie auch das ägyptische hat das katarische Nationalteam seit Jahren kein offizielles Spiel mehr bestritten; eine katarische Frauenliga existiert nicht. Der zehnfache österreichische Männerfußballmeister Red Bull Salzburg hat sich erst im Dezember dazu durchgerungen, in der kommenden Saison ein U16-Frauenteam um Punkte spielen zu lassen. Als B-Lizenzbedingung für österreichische Bundesligisten ist ab der kommenden Saison wenig konkret die "Förderung von Frauenfußball" vorgesehen. Zur Lösung des Problems mangelnder Diversität in entscheidenden Gremien will derweil der deutsche Fußballverband, so wurde zuletzt verlautbart, eine Taskforce einsetzen. Auch im strukturellen Vergleich fällt auf, dass in den marokkanischen Institutionen des organisierten Fußballs mehr Frauen mitzureden haben.
Plätze auf den großen Bühnen
Eine von ihnen ist Bahia El Yahmidi, Präsidentin der Frauensektion bei Far und Vizepräsidentin der nationalen Frauenliga hinter, das ist ihr wichtig zu betonen, einer Präsidentin. Mit Sonnenbrille, Strohhut und einer leichten Daunenjacke steht sie am Rand der Tribüne und nimmt lächelnd zur Kenntnis, dass das Derby, das keine weiteren Tore gesehen hat, abgepfiffen und damit als Sieg für ihren Klub verbucht wird. Seit 23 Jahren sei sie im Geschäft, sagt El Yahmidi. Zu Beginn sei alles schwer gewesen, auch ihre Position bei Far, zumal ihr und den Spielerinnen kein Budget zugestanden worden sei. "Aber mit der Zeit haben wir zeigen können, dass der Fußball nicht den Männern gehört."
Ghizlane Chebbak
Zwar ist das Fan- und Medieninteresse am Ligabetrieb der Frauen denkbar klein, groß dagegen sind Stolz und Träume geworden, wenn das marokkanische Nationalteam aufläuft. "Wenn wir es schaffen, die WM-Gruppenphase zu überstehen", hat die Kapitänin in einem Interview gesagt, "können wir wie die Männer Geschichte schreiben." Dabei ist es kein leichtes Los, das Chebbak und ihre Kolleginnen getroffen hat. Im ersten Gruppenspiel, das Marokko am 24. Juli um 18:30 Uhr Ortszeit im Melbourne Rectangular Stadium bestreitet, ist der Gegner Vize-Europameister Deutschland. Dass die Welt zusehen wird, wenn die Atlas-Löwinnen am Ende ihrer Nationalhymne "Allah! Al-Watan! Al-Malik!","Gott! Heimat! König!" brüllen werden, ist für ihre jungen Fans in Safi und anderswo längst Verdienst genug. "Für den Fußball der Frauen hier", hat Chebbak beim Afrika-Cup im Juli gesagt, "ist das erst der Anfang."
Dieser Beitrag ist ursprünglich in der News-Printausgabe Nr. 28+29/2023 erschienen.