Selbstverständlich wird Teodor Currentzis die Spitzenproduktion der bevorstehenden Salzburger Festspiele dirigieren. Er und der Regisseur Romeo Castellucci, die für Bartoks "Blaubart" und Carl Orffs Mysterienspiel "De temporum fine comoedia" verpflichtet wurden, sind ja die Identitätsstifter der glückhaften Ära Hinterhäuser. Zu bedauern ist lediglich, dass der auratische Maestro geplanterweise mit dem Mahler-Jugendorchester statt mit der von ihm entwickelten Elite-Formation MusicAeterna antreten wird.
Aber dass vor nicht einmal einem Monat ernsthaft darüber diskutiert wurde, einem griechischen Dirigenten die Festspiele zu verbieten, weil sein dort gar nicht auftretendes Orchester mit Sitz in St. Petersburg von einer russischen Bank unterstützt wird: Das kann man sich heute, da Hinterhäuser sein Machtwort gesprochen hat, kaum noch vorstellen. Die Uraufführung des Orff'schen Werks im Jahr 1973 dirigierte übrigens Karajan, der nach heutiger Logik mit Frühsommer 1945 seine Karriere beenden hätte müssen. Dem aber die Salzburger Festspiele (und die 550 Millionen Quadratkilometer Welt rundum) nicht Bezifferbares verdanken.
Auch Staatsoperndirektor Bogdan Roscic hat anlässlich seiner Spielplanpressekonferenz fast klare Worte gefunden: Anna Netrebko ist vertraglich für eine (mit Jonas Kaufmann und Elina Garanca auch sonst konkurrenzlos besetzte) "Aida"-Wiederaufnahme verpflichtet. Laut aktuellem Befund der Opern-Homepage wird das für Jänner 2023 angesetzte Ereignis allerdings ohne Titelsängerin in Szene gehen. Wie das? Welche Art Unklarheit kann hier noch vorherrschen? Konnte man bei der Pressekonferenz noch mit komplizierten Verhältnissen (welchen eigentlich?) argumentieren, so hat sich die Netrebko mittlerweile zu einer politischen Erklärung erpressen lassen. Niemand ist berechtigt, Künstler zu solchen Kundgebungen auch nur aufzufordern, und dass die führende Sopranistin unserer Zeit dem Drängen nachgegeben hat, ist ihr daheim in Russland übel entgolten worden. In Paris, Verona und Buenos Aires schätzt man sich glücklich, die Netrebko als Turandot, Aida und Leonore in "Macht des Schicksals" gewonnen zu haben. An der Berliner Staatsoper und an der New Yorker "Met", wo man sie opportunistisch vorauseilend vor die Tür gesetzt hat, soll man sich schämen. Österreich aber durfte, eine Auszeichnung für den Kulturstandort, der Netrebko die Staatsbürgerschaft verleihen und soll dieses Privileg jetzt nutzen, wo immer es möglich ist. Und wenn man hier einmal den kulturpolitischen Provinzlerkleinmut unterdrücken könnte, würde man auch den großartigen, aus 15 Nationen zur Einheit geformten Musikern von MusicAeterna eine Heimat bieten. Ehe sie in der russischen Isolation verkommen.
Beobachtenswert bleibt derweil, wo die teils existenzbedrohenden Angriffe gegen russische Künstler ihren Ursprung haben. Dass sich die ukrainischen Botschafter mehrerer Länder zusehends aggressiv in deren innere Angelegenheiten mengen, ist zu verstehen (aber doch mit Entschiedenheit zurückzuweisen). Die Branche hält sich schätzenswert zurück, und die offene Genugtuung einiger Weniger hat erkennbar mit Neid zu tun: der Netrebko, Currentzis, auch Gergiev ist im Gefolge herausragender Begabung alles leicht gefallen, was bescheidener Ausgestatteten trotz des Einsatzes unterirdischer Intrigen verschlossen blieb. Da hat man sich zäh nach oben gekämpft, aber während man seinen Platz zusehends mühsamer behauptet, umrunden andere einmal den Erdball, proben ungern wie die Netrebko und versäumen infolge ihrer Gefragtheit ganze Vorstellungen wie Gergiev. Und sind unfairerweise trotzdem toll.
Mit Aufmerksamkeit sind indes Krawallisierer aus der "Blogger"-Szene zu beobachten. Dass es einem von ihnen in der Kulturstadt Wien möglich war, ein der Ukraine zugedachtes Benefizkonzert der todesmutigen Currentzis-Truppe durch Drohungen zu unterbinden, möchte man für unmöglich halten. Auch das Folgende: Noch während der Generalprobe zur aktuellen "Tristan"-Premiere der Staatsoper wurde ich von einem Branchenleichnam via Rund-Mail mit einer vernichtenden Kritik bemustert. Ich hatte den Mist kaum gelöscht, da kam er mir wortgleich vom amerikanischen "Blogger" Norman Lebrecht zurück, der den Unfug per Ferndiagnose um die Welt jagte. Wie man hört, beruht das Geschäftsmodell der "Blogger"-Branche nicht unwesentlich auf Inseraten, die Opernhäusern und Orchestern angedient werden, eine im Lichte jüngster innenpolitischer Verwerfungen durchaus brisante Materie. Sie erfahren an dieser Stelle demnächst mehr.