Ich habe das Gefühl, es wird heute ein Stück Geschichte geschrieben. Deutschland und Österreich zeigen, dass es in der aktuellen Situation zuerst um Menschlichkeit geht. Es sind Menschen, die da kommen, und es sind Menschen, die da helfen.“ So fasste Caritas-Generalsekretär Klaus Schwertner im Herbst 2015 seine Eindrücke zusammen. Eindrücke vom Westbahnhof, an dem Zehntausende Flüchtlinge ankamen. Spontane Hilfsbereitschaft wurde zur „Willkommenskultur“. Doch was ist davon geblieben, wie lässt sich die Geschichte heute einordnen?
Es war kein gewöhnlicher Spätsommer, jener vor drei Jahren. Am Wiener West- und Hauptbahnhof herrschte Ausnahmezustand. In Österreich stellen damals über 87.600 Schutzsuchende einen Asylantrag. Menschen aus Syrien, Afghanistan, dem Irak kamen nach langer, oftmals beschwerlicher Reise in Wien an. Teilweise mehr als 6.000 an einem Tag.
„Ich habe in der Nähe vom Westbahnhof gearbeitet und hab die Szenen dort hautnah mitbekommen“, erzählt Marina W. Schnell folgten die ersten Aufrufe über Facebook, dass freiwillige Helfer und Helferinnen gesucht würden – die junge Frau packte mit an. Erst bei der Caritas am Westbahnhof, dann am Hauptbahnhof.
Herausforderungen
Wäsche sortieren, Spenden entgegennehmen, Essen zubereiten, all das nach acht Stunden im Büro. „Klar, war das Arbeit. Aber es hat auch großen Freude gemacht“, so die 30-Jährige rückblickend. Es sei der Zusammenhalt, die Teamarbeit gewesen, die motivierend auf jeden gewirkt habe. „Ich war überwältigt von der Solidarität der Menschen. Es gab Tage, da war der Drogeriemarkt leergekauft, weil jeder einen Beitrag leisten wollte.“
Die wenigsten konnten zu dem Zeitpunkt einschätzen, was da jetzt passiere. „Es war ein bisschen wie im Schock, nur dass es keine Starre war, man wollte helfen.“ Drei Jahre später, sollten sich die Bilder gleichen, würde Marina W. wieder mit anpacken? „Ich glaube, von den Leuten, die damals geholfen haben, würden alle nochmal hingehen.“ Ein sogenannter „Gutmensch“ also? „Was ist denn das Gegenteil von Gutmensch?“, fragt die junge Frau und nimmt die Zuschreibung an.
Scharfe Kritik übt sie an der türkis-blauen-Regierung. Die Polemik mit der die Regierungsparteien die Themen Flucht und Asyl behandeln würden, sei schädlich. Man würde die Schutzsuchenden nicht mehr als Menschen sehen, sondern als „Fremde“, das sei menschenverachtend. „Warum wendet man Tausende von Euro für eine Grenzschutzübung auf, statt sie in Integration zu investieren?“ Auch das oftmals zitierte Argument, man solle zuerst den Österreichern im eigenen Land, und dann den Flüchtlingen helfen, lässt Marina W. nicht gelten. „Mit dem Sozialabbau, den die Regierung derzeit betreibt, sind es nicht vermeintliche andere, die ‚uns‘ etwas wegnehmen, sondern es ist unsere eigene Regierung.“
Ähnlich kritisch sieht Ariana Umathum die politische Situation. „Es ist sehr deprimierend, dass es in solch eine extrem ablehnende Richtung gegangen ist“, fasst die Weinbäuerin zusammen. Umathum ist eine der Gründerinnen des Vereins „Region Neusiedlersee hilft“ – einem Netzwerk, das sich zum Ziel gesetzt hat, Austausch und Kontakt zu fördern. „Wir sind für alle hier lebenden Menschen tätig. Wenn man Menschen unbetreut wegsperrt – und damals hatten wir Quartiere mit bis zu 100 Personen im Bezirk – dann kommt es natürlich zu Eskalationen.“
„Botschaft aus Österreich“
Umathum erkannte schnell, was damals am stärksten gebraucht wird – Struktur. Zu Beginn sei ein „Riesen-Chaos“ gewesen, auch professionelle Organisationen hätten mindestens ein halbes Jahr gebraucht, um das Ganze zu organisieren, so die Burgenländerin. Nicht selten kam es unter diesen Umständen zu Konflikten zwischen den Freiwilligen. „Wir haben dann den Verein gegründet und bieten seit Anfang 2016 monatlich Supervision an, bieten Austausch von Wissen und Erfahrung zwischen den Gemeinden an und sind gut vernetzt.“
Ihre Aufgabe versteht Umathum als „Botschaft aus Österreich“ – denn selbst wenn Menschen abgeschoben werden und ihnen ein Aufenthalt in Österreich nicht bewilligt wird, „hat es in Österreich Menschen gegeben, die Verständnis gehabt haben und die sie ein Stück des Weges begleitet haben“.
Unternehmerisch gedacht
Einen unternehmerischen Weg hat Katha Schinkinger eingeschlagen. Gemeinsam mit Martin Rohla und David Kreytenberg eröffnete sie im Mai 2016 das Restaurant Habibi und Hawara. Die Küche österreichisch, orientalisch, gekocht und serviert von Österreichern und Geflüchteten. Die Idee sei ihnen im Sommer zuvor gekommen. „Wir haben gesehen, welches Potenzial an Unternehmerinnen zu uns ins Land kommt. Bestens ausgebildete Leute, großartige Handwerkerinnen“, erzählt Schinkinger. Um nachhaltig Hilfe leisten zu können, entschlossen sie sich, ein Unternehmen zu gründen.
Ob sie damals geahnt habe, welche gesellschaftlichen Herausforderungen auf Österreich zukommen würden? „Es ist ja nicht so dramatisch, wie es hochgespielt wird, übrigens auch in den Medien“, so Schinkinger. „Regierung und Zivilgesellschaft waren damals gefordert und sind es jetzt auch. Integration ist ja keine Einbahnstraße.“
Das Konzept des Restaurants geht auf. Eine Expansion ist geplant, „wir wollen kleine Take-away-Filialen eröffnen“, sagt die Unternehmerin. Die Geschäftsführer-Positionen – im Sinne des geplanten Franchise-Systems – werden dann jeweils die begabtesten Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen oder Bewerberinnen mit Flucht- oder Migrationshintergrund übernehmen. Man wolle nicht nur ein Gastronomie- oder Integrationsprojekt sein, „sondern auch ideologiefreien Dialog bieten“.
Beklemmendes Gefühl
Dass man Lehrlinge, die in Mangelberufen ausgebildet werden, abschiebt, sei „nicht nur menschlich eine Tragödie, sondern auch volkswirtschaftliche ein Irrsinn“, so die 40-Jährige. „Ich bin überzeugt davon, dass es möglich ist, Menschen zu integrieren“, sagt Schinkinger und betont: „Und ich trage keine rosarote Brille!“ Integration würde nur bei Menschen funktionieren, die diese auch wollen würden. Zudem sei eine rasche, unkomplizierte Öffnung des Arbeitsmarkts für Geflüchtete von enormer Bedeutung.
Hilfe für Geflüchtete schließt Hilfe für Österreicher nicht aus, meint Schinkinger. „Natürlich versucht man, den bedürftigen Österreichern zu helfen, aber das ist kein Gegengewicht; man darf marginalisierte Gruppen nicht gegeneinander ausspielen.“ In den vergangenen Jahren stand die Unternehmerin oft in der Gruft, hat gekocht oder Spenden gesammelt. „Es geht leider relativ schnell mit der Entsolidarisierung. Wenn man eine Gruppe marginalisiert, dann ist man schnell bei der nächsten.“
Ähnlich sehen es Brigitte Höferl und Debbie. Die beiden Frauen haben 2015 als freiwillige Helferinnen bei „Train of Hope“ gearbeitet und tun es noch immer. Man würde die gesellschaftlichen Herausforderungen größer machen, als sie seien, sagt Höferl – „das bisschen, was uns die Flüchtlinge kosten, ist lächerlich.“ Die Wienerin beklagt das Schlechtreden und die Hetze; vielmehr gehe es um Starthilfe und um die Anerkennung auf Augenhöhe. „Den Mensch zu respektieren, wie er ist.“
Starthilfe leistete Höferl damals am Hauptbahnhof. Sie habe sich willkommen und zugehörig gefühlt, erzählt sie. Gemeinsam mit ihren Töchtern, den Schwiegersöhnen und der 80-jährigen Mutter verteilte sie Lebensmittel, spendete Trost und sogar eine Herberge. Auch heute wohnt noch ein Mädchen aus Damaskus bei Frau Höferl. Die Kosten trägt sie alleine – „im Endeffekt sind sie wie meine Kinder.“
Beklemmende Sorgen
Das Aufstehen fällt ihr in letzter Zeit dennoch schwer, es sind die Sorgen, „der Knödel im Magen“, wie es Brigitte Höferl nennt, den sie nicht loswird. „Es ist so wie in den 30er-, 40er-Jahren“, meint Höferl mit Blick auf die Politik, „schauen Sie ins Geschichtsbuch, es läuft heute nicht anders ab. Und das ist für mich sehr beklemmend.“
„Das was heute abrennt, finde ich verrückt“, ergänzt Debbie. Die Mutter einer Tochter ist selbst Migrantin. „Ich bin als Britin mit elf Jahren nach Österreich gekommen und habe damals schon gemerkt, dass ich auf einer ganz anderen Stufe stehe. Ich war immer die tolle Engländerin und andere, die zum Beispiel aus Ex-Jugoslawien kamen, waren die Tschuschen.“ In der Nacht vom 1. September 2015 half auch sie am Hauptbahnhof. Sie hat schöne, beeindruckende Erlebnisse gesammelt und auch die Erfahrung gemacht, dass „die meisten weiter wollten. Die wollten ja nicht in Österreich bleiben und hier Mindestsicherung beantragen“, schildert Debbie. „Die meisten waren eher so: Ah, Österreich, das gibt es auch?“ Österreich sei eben nicht so berühmt, wie es glaubt, zu sein, fügt sie lächelnd hinzu.
Dieser Artikel erschien ursprünglich in der Printausgabe 32/2018