Fortschritte in Technologie und künstlicher Intelligenz verpassen der Medizin ein Update. Im OP lernen Roboter, das Skalpell zu führen, KI-Systeme können als "digitale Ärzte" Kranke behandeln und Medikamente entwickeln. Die größte Hürde: die Sache mit dem Datenschutz.
- Menschliches Gehirn als Vorbild
- Operation via "Spielkonsole"
- Erhöhte Präzision durch Roboter
- Mehr Daten, besserer Algorithmus
- KI-Beratung bei Blutvergiftung
- Mehr Daten auf Intensivstationen
- Ein Punkt pro Überlebendem
- Ärzte nicht in Existenzgefahr
- Potenzial in Bildung und Forschung
- KI findet neue Zusammenhänge
- KI entdeckt neue Wirkstoffe
- Maßgeschneiderte Medizin
- Strenge Datenschutzrichtlinien
- Haftungsfrage noch ungeklärt
- EU arbeitet an KI-Verordnung
"Jetzt wird es Schlag auf Schlag gehen", ist Chirurg Alexander Klaus überzeugt. Er rückt seine Brille zurecht, während er auf ein Modell seines neuesten Kollegen im Operationssaal deutet, den "Da Vinci XI". Dieser ist nicht etwa ein neuer Assistenzarzt, sondern ein etwa eineinhalb Meter hoher Roboter. Vier metallische Arme ragen wie Spinnenbeine aus seiner Vorderseite. "Noch ist dieser Roboter nur ein Hilfswerkzeug für uns. Er trifft keine selbstständigen Entscheidungen", sagt Doktor Klaus. "Aber in Zukunft, wenn sich die künstliche Intelligenz weiterentwickelt, werden ähnliche Maschinen vielleicht auch ohne Chirurgen operieren können."
Menschliches Gehirn als Vorbild
Künstliche Intelligenz revolutioniert alle Lebensbereiche - und macht auch vor den Krankenhäusern nicht halt. KI-Systeme können in kurzer Zeit große Datenmengen auswerten, auf Basis erlernten Wissens Entscheidungen treffen und menschliche Denkprozesse imitieren. Der große technologische Durchbruch war laut KI-Forscher Günter Klambauer das "Deep Learning", auch als Prinzip der "künstlichen neuronalen Netze" bekannt. "Vorbild des Deep Learnings sind biologische neuronale Netzwerke - also das menschliche Gehirn", erklärt Klambauer. Wie ein Mensch, der über Sinneswahrnehmungen Informationen aufnimmt, könne mittlerweile auch eine künstliche Intelligenz Input über künstliche Neuronen, die aus Informationsspeichern bestehen, verarbeiten.
Im Gesundheitsbereich gibt es viel Anwendungspotenzial. Schon früh erfolgreich war künstliche Intelligenz im Bereich der bildgebenden Verfahren: Automatisch erstellte Röntgenbefunde und computergestütztes Sehen im OP-Saal sind längst State of the Art. Auch in der Erkennung von Hautkrebs ist die KI zum verlässlichen Partner geworden. Jetzt erwarten Experten regelrechte Quantensprünge in der KI-Medizin: Rein technisch sollen in naher Zukunft nicht nur Diagnosen, sondern auch auf den Einzelnen zugeschnittene Behandlungspläne von "digitalen Ärzten" generiert werden können. In der Basisforschung sollen KI-Systeme bald in der Lage sein, Wirkstoffe für neue Medikamente zu identifizieren oder Präparate auf individuelle Patienten anzupassen.
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Operation via "Spielkonsole"
In den Operationssälen des Barmherzige-Schwestern-Krankenhauses in Wien ist künstliche Intelligenz längst angekommen. Seit Oktober 2022 ist der Roboter "Da Vinci XI" in der chirurgischen und urologischen Abteilung im Einsatz. In seinem ersten Dienstjahr hat er bereits über 540 Eingriffe durchgeführt. Während einer Operation führt einer der vier "Spinnenarme" eine Kamera mit Doppellinse, die dem Chirurgen eine dreidimensionale Sicht ins Innere seines Patienten ermöglicht. An den Spitzen der anderen Arme sitzen winzige Klemmen, Zangen und Skalpelle. Diese Werkzeuge imitieren jede Handbewegung des Chirurgen, die der Arzt an einer grauen Konsole ausführt. Dafür legt er Daumen und Mittelfinger an zwei kleine Tastsensoren und lenkt seinen Blick auf einen Monitor - wie bei einem Videospiel.
Erhöhte Präzision durch Roboter
"Es gibt einige Vorteile", sagt Doktor Alexander Klaus. "Erstens zittert der Roboter nicht - weder mit der Kamera noch mit dem Chirurgiewerkzeug. Zweitens ist das Werkzeug flexibler - es kann sich präzise in verschiedene Winkel drehen wie ein echtes Handgelenk." Das könne ein starres, metallenes Skalpell nicht.
Ganz auf sich gestellt gehe eine Roboter-OP aber noch nicht über die Bühne. Zur Kontrolle steht bei einer "Da Vinci XI"-OP ein zweiter Chirurg direkt am Operationstisch des Patienten. Im Notfall könne der Roboter sofort per Knopfdruck deaktiviert werden. "Dann wird einfach händisch weiteroperiert", sagt Klaus. "Nötig war das bisher aber noch nicht."
Mehr Daten, besserer Algorithmus
"Mit jeder durchgeführten OP sammelt die KI, die in den Roboter eingebaut ist, neue Daten", erklärt Doktor Klaus. "Idealerweise wird er irgendwann sagen können: Vorsicht, bei einem Schnitt an dieser Stelle hat es in anderen Fällen geblutet. Aber noch ist das Wunschdenken." Aktuell sei menschliche Erfahrung noch nicht ersetzbar. "Das wird sich aber sicherlich ändern", ist Klaus überzeugt. "Wenn sich die Technologie weiter verfeinert und genug Datenmaterial zur Verfügung steht, kann ein Roboter mehr Erfahrung sammeln, als es ein Arzt je könnte."
Ein Wiener KI-Forschungsprojekt ist dem ehrgeizigen Vorhaben, menschliche Kompetenz zu überbieten, bereits nähergekommen. "Unser Algorithmus erzielt laut der Evaluierung mindestens gleich gute Endergebnisse wie die Ärzte", sagt der Mathematiker und Informatiker Clemens Heitzinger. "Wenn nicht sogar eine Spur bessere."
KI-Beratung bei Blutvergiftung
Clemens Heitzinger ist zwar nicht Mediziner, dafür aber Ko-Direktor des Centers for Artificial Intelligence and Machine Learning an der Technischen Universität Wien. Mit einem Team aus Diplomanden und Doktorandinnen entwickelt er einen Algorithmus, der mit Daten von Sepsispatienten gefüttert wurde. Laut Global Sepsis Alliance verstirbt weltweit alle 2,8 Sekunden ein Mensch an einer Blutvergiftung. Nahezu jede akute Infektionskrankheit kann zum Auslöser werden, wenn der Körper beim Abwehren des Erregers wie aus Versehen auch die eigenen Organe schädigt. "Sepsis ist die häufigste Todesursache auf Intensivstationen", sagt Heitzinger. "Unser Ziel ist, die Blutvergiftung früh zu erkennen und rasch die optimale Behandlungsstrategie zu finden."
Mehr Daten auf Intensivstationen
Das Team habe sich aus einem pragmatischen Grund für den Forschungsbereich Sepsis entschieden: Auf der Intensivstation werden mehr Daten gesammelt als in anderen Bereichen. In manchen medizinischen Disziplinen stelle auf der anderen Seite die vergleichsweise dünne Datenlage ein Problem für die Forschung dar. "Wir haben Daten von Zehntausenden Patientenakten verwendet", sagt Heitzinger. Alle vier Stunden hätten Maschinen bis zu circa 200 Merkmale wie Vitalwerte, Sauerstoffsättigung und Kreislaufaktivität erhoben. Auf Basis dieser Erkenntnisse hätte Heitzingers Team in Zusammenarbeit mit Oliver Kimberger von der Medizinischen Universität Wien einen passenden Algorithmus entwickelt.
Ein Punkt pro Überlebendem
Die Methodik hinter jenem Algorithmus nennt sich "Reinforcement Learning" - ein Teilgebiet des maschinellen Lernens, das auf Bestrafung oder Belohnung beruht und auch "bestärkendes Lernen" genannt wird. "Der Lernalgorithmus hat das Ziel, schnell die optimale Behandlungsentscheidung zu treffen", erklärt Heitzinger. Die Funktionsweise: Dem Programm wird der historische Datensatz eines Patienten gegeben. Daraufhin untersucht die KI die Auswirkungen verschiedener Behandlungsstrategien. Wenn sich der Zustand verbessert und der Patient überlebt, bekommt die künstliche Intelligenz einen "Belohnungspunkt". Verstirbt der Patient, gibt es zur Strafe einen Punkt Abzug. "Auf diese Weise lernt die KI, welche Behandlungsstrategien in welchen Fällen zum Ziel führen", erklärt Heitzinger. Der Algorithmus lerne aus vergangenen Behandlungsentscheidungen, für die sich Ärzte in den historischen Daten entschieden hätten. "Je mehr Datenmaterial wir haben, desto besser wird der Algorithmus. Optimal wäre natürlich, wenn der Computer schon mit jeder möglichen Komplikation Bekanntschaft gemacht hätte, damit er auch in den seltensten Situationen die richtige Entscheidungshilfe geben kann."
Ärzte nicht in Existenzgefahr
Dass die stetig schlauer werdende künstliche Intelligenz Medizinerinnen und Medizinern gefährlich werden könnte, glaubt der Mathematiker nicht. "Ärztinnen und Ärzte werden nicht um ihren Job fürchten müssen", sagt Clemens Heitzinger. "KI-Systeme wie dieses sollen niemanden ersetzen, sondern als Entscheidungshilfe dienen."
In der Evaluierungsphase habe sich herausgestellt, dass Ärzte und KI einen Notfall in gewissen Fällen verschieden bewerten. Während Medizinerinnen und Mediziner oft nur auf rund sechs Parameter gleichzeitig achten können, kalkuliert die KI weit mehr Gesundheitsparameter in ihren Behandlungsvorschlag ein. Dementsprechend könne die KI eine sinnvolle Ergänzung für Mediziner sein, um die eigene Einschätzung gegenzuchecken.
Potenzial in Bildung und Forschung
Das KI-System könne aber nicht nur in der Akutmedizin, sondern auch in der Aus- und Weiterbildung nützlich sein. "Ähnlich wie bei einem Flugsimulator könnten angehende Ärztinnen und Ärzte verschiedenste Szenarien durchspielen, ohne echte Patienten in Gefahr zu bringen", erklärt der KI-Experte. Ein entscheidender Vorteil: Mit ausreichender Datenmenge könne die KI auch seltene Notfälle simulieren. "Während eines Turnus als Assistenzarzt sieht man nicht alles. Die KI aber kann auch Ausnahmefälle erfahrbar machen und den angehenden Intensivmedizinern Sicherheit geben." Auch für die Forschung hätte die KI während dem Projekt interessante Impulse gegeben. "Es passiert immer wieder, dass die KI einen Wert als entscheidend einstuft, der für menschliche Forschende bisher nicht als relevant wahrgenommen worden ist", sagt Heitzinger. An dieser Stelle könne man den Ball an die Basisforschung zurückspielen. "Dann stellt sich die Frage: Hat dieser Wert eine biochemische Bedeutung, die wir bisher übersehen haben?"
KI findet neue Zusammenhänge
Auch Günter Klambauer, assoziierter Professor für Artificial Intelligence an der Johannes Kepler Universität, hat ähnliche Erfahrungen gemacht. "Eine KI kann Zusammenhänge erkennen, die bisher noch keine Ärztin und kein Arzt festgestellt hat", sagt Klambauer.
Wenn man einer trainierten KI den Befehl gibt, Datenmaterial auf eine gewisse Krankheit zu überprüfen, könne es passieren, dass von der künstlichen Intelligenz gewisse Parameter oder Werte in den Vordergrund gerückt werden. "Die KI signalisiert, dass dieser bestimmte Wert etwas mit der Diagnose zu tun haben könnte." Dieser neue Kreislauf ist laut Günter Klambauer ein entscheidender Fortschritt: "In der medizinischen Forschung wird sich fundamental ändern, wie Wissen erzeugt wird."
Zuversichtlich zeigt sich Klambauer aber auch im klinischen Bereich. "Mit guter Datenlage werden KI-Systeme genauso exakte Diagnosen stellen können wie gut ausgebildete menschliche Expertinnen und Experten", sagt Klambauer. Je nach Bereich gäbe es zwar bei jedem System, das auf künstlicher Intelligenz basiert, bestimmte Fehlerraten. Diese würden aber durch stetige Verbesserung der Algorithmen und der wachsenden Datenmenge immer besser werden. "Außerdem machen auch Menschen Fehler", gibt Klambauer zu bedenken.
KI entdeckt neue Wirkstoffe
Ein weiterer potenziell wichtiger Einsatzbereich für Künstliche-Intelligenz-Systeme: die Entwickelung neuer Medikamente. "Wir forschen an KI-Systemen, die erkennen können, welche chemischen Stoffe sich als Wirkstoffe in Arzneimitteln eignen könnten", sagt Günter Klambauer. "Dafür muss eine extrem große Anzahl an möglichen Molekülen analysiert werden." Händisch sei das sehr mühsame, langwierige Laborarbeit - eine Forscherin oder ein Forscher kann nur ein Molekül auf einmal untersuchen. "Eine KI aber kann in kurzer Zeit eine Milliarde Moleküle auf bestimmte Merkmale scannen", erklärt Günter Klambauer. "Dann könnte das System sagen: Diese 1.000 Moleküle kommen als Wirkstoffe in Frage." Auf Basis der KI-Antwort könnten dann klinische Test durchgeführt und in weiterer Folge neue Medikamente entwickelt werden.
Maßgeschneiderte Medizin
Laut Günter Klambauer gibt es noch eine weitere wichtige medizinische Tür, die sich durch KI-Systeme öffnet. "Künstliche Intelligenz wird es möglich machen, Wirkstoffe oder Therapien individuell an einzelne Patientinnen und Patienten anzupassen", sagt der KI-Forscher. "Das ist die Grundlage für personalisierte Medizin."
Jede Person habe ein einzigartiges Genetik-Profil. Auf Basis dieser Informationen werde ein KI-System untersuchen können, ob eine Person ein bestimmtes Medikament mit ihrer genetischen Ausstattung gut oder schlecht vertragen würde - und welche Anpassungen für eine bessere Verträglichkeit notwendig wären.
"Auch im Bereich der Immunologie kann sich durch KI viel verändern", ist Klambauer überzeugt. "In der Praxis wird personalisierte Medizin aber noch kaum umgesetzt, weil die Datenlage mangelhaft ist."
Strenge Datenschutzrichtlinien
"Bevor eine KI im Krankenhaus zum Einsatz kommen kann, sind eine Menge rechtlicher Rahmenbedingungen zu klären", sagt Rechtsanwalt Philipp L. Leitner. Er beschäftigt sich seit Jahren mit den rechtlichen Rahmenbedingungen, die für den Einsatz von künstlicher Intelligenz in der Medizin nötig werden. Wesentlich seien drei Bereiche: Datenschutzrecht, Berufsrecht und Haftungsrecht.
"Gesundheitsdaten erfahren durch die Datenschutzgrundverordnung einen besonderen Schutz, weil sie sehr sensibel sind", erklärt Leitner. Es sei wichtig, für das Training der KI nach Möglichkeit keine personenbezogenen Daten zu verwenden, sondern mit vorab anonymisiertem Material zu arbeiten. "Für die medizinische Forschung ist problematisch, dass das größte medizinische Register Österreichs -ELGA, die elektronische Gesundheitsakte -nach derzeitigem Rechtsstand nicht für die Wissenschaft verfügbar ist."
Haftungsfrage noch ungeklärt
Gleichzeitig schreibe das Berufsrecht fest, dass ärztliche Tätigkeiten nur von Ärztinnen oder Ärzten ausgeübt werden dürfen. "Demnach kann eine KI medizinisches Personal keinesfalls ersetzen, sondern nur unterstützen", betont Philipp Leitner. Das schlage sich auch im Haftungsrecht nieder. "Ein spezifisches KI-Haftungsrecht gibt es derzeit noch nicht. In Österreich gilt das Verschuldensprinzip", sagt Leitner. "Das bedeutet, dass die Ärztin oder der Arzt immer für den Einsatz der künstlichen Intelligenz verantwortlich bleibt -und auch im Falle seines Verschuldens, beispielsweise aufgrund des fahrlässigen Einsatzes eines untauglichen Systems, für Fehler der KI haftet."
EU arbeitet an KI-Verordnung
Das könnte sich bald ändern. "Auf EU-Ebene wird derzeit eine KI-Verordnung verhandelt", erklärt Philipp Leitner. Wenn diese in Kraft tritt, werde es auch für den Medizinsektor neue Spielregeln geben. Dann könnten KI-Systeme in der Medizin als sogenannte Hochrisiko-KI-Systeme klassifiziert werden - und für den Hersteller sowie den Betreiber mit strengeren Auflagen verbunden sein. "Es gibt zudem Bestrebungen, ein spezifisches Haftungsrecht für künstliche Intelligenz auf den Weg zu bringen. Dann könnten zukünftig nicht mehr nur Ärztinnen und Ärzte im Falle ihres Verschuldens, sondern auch die Hersteller verschuldensunabhängig für fehlerhafte Produkte haften."
Sobald auch die rechtlichen Spielregeln geklärt sind, könnten KI-Systeme wesentlich einfacher in Spitäler und Ausbildungsstätten für angehende Medizinerinnen und Mediziner Einzug nehmen. Laut Clemens Heitzinger könnte der Sepsis-Computer in drei bis fünf Jahren Teil des klinischen Alltags sein - optimistisch geschätzt.
Der Beitrag erschien ursprünglich im News 40/2023.