Die Corona-Krise hängt uns allen wirklich schon zum Hals heraus. Seit Monaten hören wir, wir müssen noch ein bisschen durchhalten. Immer und immer wieder. Und dennoch hoffen wir, dass dieser Wahnsinn bald ein gutes Ende nimmt. Warum wir die Hoffnung nie verlieren und was wir brauchen, um auch in dunklen Zeiten zuversichtlich nach vorne zu blicken, verrät die Schweizer Psychologin und Bestseller-Autorin Verena Kast.
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Ihr im Herbst 2020 erschienenes Buch trägt den Titel "Immer wieder neu beginnen: Die kreative Kraft von Hoffnung und Zuversicht"*. Wie kann man in einer Zeit, wo vieles ungewiss ist, hoffnungsvoll in die Zukunft blicken?
Der Mensch hat Hoffnung, solange er lebt. Manchmal sagen wir: "Jetzt hab ich überhaupt keine Hoffnung mehr." Oder jemand, der einen Verlust erlitten hat, sagt: "Ich mag nicht mehr." Aber er isst weiter und er geht weiter. Weil das, was uns da abhandengekommen ist, ist nur die triviale Hoffnung. Untergründig hoffen wir weiter, bis wir sterben. Man sagt: "Die Hoffnung stirbt zuletzt." Und irgendwo stimmt das ja auch, weil die Hoffnung ist das Begleitgefühl des Lebendigseins. Wenn wir nun sehr viele Ängste haben, ist es natürlich möglich, dass wir die Zukunft in grauen Farben malen. Aber das müssen wir nicht. Gerade jetzt, wo wir Corona doch schon wirklich satt haben, können wir anfangen, Vorfreuden zu haben. Indem wir uns vorstellen, was wir tun, wenn es wieder besser ist. Wen wir treffen oder wohin wir gehen - ohne dass wir uns immer fragen müssen: Darf ich das jetzt oder darf ich das nicht? Diese Vorfreuden bewirken, dass wir die Zukunft eben doch nicht nur grau sehen.
Man sollte sich also weniger mit seinen Ängsten beschäftigen und den Blick mehr auf die Dinge richten, auf die man sich freut.
Es ist auch okay zu sagen: "Ich habe Angst, und aus der Angst heraus sehe ich die Zukunft grau." Die Situation ist ja auch wirklich deprimierend. Aber es ist wichtig, dass man die Balance hält - zwischen den Befürchtungen, die man hat, und den positiven Erwartungen, die man genauso hat. Man sollte nicht nur das Grau sehen, sondern eben auch die Vorfreuden. Denn zu dieser grundlegenden Hoffnung gehört, dass wir uns auch immer wieder freuen können. Vieles, was uns sonst Freude bereitet, ist jetzt weg. Dafür lernen wir, uns wieder über kleine Dinge zu freuen. Wir gehen durch den Wald und sehen das Glitzern des Schnees, wir kochen uns etwas Gutes ... Es ist wichtig, dass man diese positiven Dinge bewusst wahrnimmt und dankbar für sie ist.
In einem Interview erzählten Sie, dass Sie, nachdem Sie als Kind sämtliche Bücher der örtlichen Bibliothek gelesen hatten, auf die Bibel zurückgriffen. "Da hatte man lange etwas davon", sagten Sie. Welche Rolle spielt die Religion heute in puncto Hoffnung?
Die Bibel ist voll von wunderbaren Geschichten. Mit denen kann man sehr gut leben - auch dann, wenn man, so wie ich, nicht kirchlich geprägt ist. Und noch etwas ist wichtig: Situationen, in denen wir emotional berührt werden. Diese spezielle Gefühl wird neuerdings auch beforscht. Man nennt es Kama Muta. Das ist ein Sanskrit-Wort und bedeutet: Ich bin berührt, ich bin ergriffen. Das kann dann sein, wenn die Landeshymne gespielt wird. Das kann aber auch sein, wenn ein Kind geboren worden ist. Auch Musik kann so ein Gefühl plötzlicher Ergriffenheit hervorrufen. Oder eben ein Ritual in der Kirche. Manche Menschen sagen: "Mit der Kirche hab ich nichts am Hut, aber ich mag das Ritual."
Und welche Rolle spielen zwischenmenschliche Beziehungen - vor allem auch bei der Bewältigung von Krisen?
Menschliche Beziehungen sind fundamental. Wenn Sie an ein Baby denken - ohne eine menschliche Beziehung stirbt es. Das ist später gar nicht so anders. Wir brauchen menschliche Beziehungen. Sie geben uns Geborgenheit, sie geben uns Wärme. Wenn Sie zum Beispiel an Angst denken - Krise macht Angst. Sobald wir Angst haben, suchen wir einen Menschen, mit dem wir sprechen können. Damit meine ich jetzt nicht, dass man die Angst auf dem anderen ablädt, sondern dass man sich miteinander austauscht. Dass man sagt: "Wir haben jetzt Angst." Und: "Wie gefährlich ist es eigentlich? Müssen wir es aushalten? Können wir irgendetwas verändern?" Sobald wir zu zweit sind und über die Angst sprechen, geht es uns gleich viel besser.
Immer wieder neu beginnen: Die kreative Kraft von Hoffnung und Zuversicht
Wie wirkt es sich auf uns aus, dass wir gerade jetzt sozial Distanz halten müssen?
Das ist ganz schwierig. Man hat jetzt ja auch echt Lust, den Menschen in den Arm zu nehmen. Dabei wird uns bewusst, wie wichtig Berührung für uns Menschen ist. Wobei es hier natürlich um mehr als nur um Berührung geht. Ich arbeite im Moment ganz viel über Video. Das kann niemals die richtige Begegnung ersetzen, aber es ist besser, als jemanden gar nicht zu sehen. Es wird auch immer wieder geschimpft, dass sich einige nicht an den Lockdown halten und dann doch mit ihren alten Freundinnen Kaffee trinken gehen. Mir hat kürzlich jemand, der mich besuchen wollte, gesagt: "Aber mich kannst Du doch reinlassen. Wir kennen uns doch". Im Sinne von: "Wir sind doch vertraute Leute. Also warum misstraust Du mir jetzt?" Das ist schlimm, oder? Dass man den anderen nicht primär als Bringer von Freude, sondern als Bringer von Krankheit sieht.
Um nochmals den Titel Ihres Buches aufzugreifen: "Neu beginnen" bedeutet sich weiterzubewegen. Während des Lockdowns steht aber vieles still. Was passiert da gerade mit uns?
Was wir in der Realität nicht machen können, kommt in der Fantasie. Ich fühle mich zum Beispiel extrem gebremst. Einige Sachen, die ich gerne machen möchte, kann ich jetzt nicht machen. Und genau deshalb fängt man an, Fantasien zu haben. Man denkt darüber nach, was man machen möchte, wenn man es wieder kann. Viele Menschen haben in den letzten Monaten auch Projekte auf die Beine gebracht. Zum Beispiel künstlerisch tätige Menschen. Die bewundere ich sehr. Die kriegen ja lange nicht das Geld, das sie bräuchten. Trotzdem oder gerade deshalb schaffen sie neue künstlerische Projekte. Und genau das ist es: Ich bin gebremst, was fällt mir also ein? Ich mache etwas, ich gestalte meine Zukunft.
Zukunft gestalten heißt ja immer auch selbstbestimmt handeln. Nun stehen aber Vorschriften und Verbote auf der Tagesordnung. Die Regierung bestimmt, wann ich meine Wohnung verlassen, wen ich treffe darf … Büßen da nicht bis zu einem gewissen Grad an Selbstbestimmung ein?
Wenn ich zum Beispiel auf die Berge gehe und am Seil von einem Bergführer hänge, dann besteht meine Selbstbestimmung darin, einen Schritt vor den anderen zu setzen. Wenn ich sagen würde: "Hey, Bergführer, ich bin ein selbstbestimmter Mensch, lass mich vom Seil!", dann würde ich abstürzen. Man muss sich also die Situation ansehen - und in der kann ich immer noch selbstbestimmt handeln. Unsere Regierungen wissen ja auch nicht, was sie tun sollen. Die versuchen nur das Beste. Auch wenn wir manchmal denken, es könnte noch besser sein. Abgesehen davon geht es da ja nicht nur um meine Autonomie, sondern auch um die Beziehung der Menschen miteinander. Es geht darum, einander zu schützen. Gerade in einer Pandemie sehen wir, dass Autonomie allein überhaupt nichts bringt.
Bei vielen macht sich derzeit ein Gefühl der Hilflosigkeit breit. Im Sinne von "Ich kann eh nichts an der Situation ändern". Was würden Sie Menschen, die so denken und empfinden, raten?
Die Situation ist bedrohlich. Wir wissen nicht, wie wir reagieren sollen, sind hilflos und haben Angst. Nun gibt es Menschen, die schneller Angst haben, und solche, die von sich behaupten, sie hätten überhaupt keine Angst. Und gibt es Menschen, die sich sagen: "Okay, im Moment ich fühl' mich hilflos, aber ich kann das aushalten." Und genau das mussten wir bis jetzt: die Hilflosigkeit aushalten und auch immer wieder schauen, wie man sich selbst helfen kann, was man tun kann, damit es einem besser geht.
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In Ihrem neuen Buch ist die Rede von inneren Gegenkräften, die dabei helfen, Angst und Verzweiflung zu bewältigen. Um welche inneren Gegenkräfte handelt es sich hier?
Es geht darum zu schauen, wo man Freude hat, wo man berührt wird und welche guten Vorstellungen man hat. Im Grunde genommen sind wir Menschen ziemlich ausbalanciert. Wir haben nicht nur Ärger, Angst, Trauer, sondern eben auch Neugier, Interesse. Wir haben das Explorieren, wir haben das Miteinander-Spielen. Wir haben all diese positiven Emotionen um die Freude herum. Das sind unsere Gegenkräfte.
Und die gilt es zu aktivieren.
Ja. Und vor allem auch zu sehen, zu spüren. Viele Menschen sagen: "Ich hab gar keine Freude mehr." Für den Moment kann ich das gut teilen. Dann sage ich: "Ich hab mich gerade ungeheuer gefreut, weil die Sonne auf den Schneekristallen geblitzt hat. Das hat mir ein ganz warmes Gefühl gegeben." Und dann sagen sie zum Beispiel: "Ach so, ja … Ich hab mich gefreut, weil ich im Laden Artischocken gefunden hab." Verstehen Sie? Man muss es wahrnehmen!
Ein Schwerpunkt Ihrer Arbeit liegt auf der psychoanalytischen Interpretation von Märchen. Warum sind Märchen für uns so wichtig?
Märchen fangen immer mit einer problematischen Situation an. Sodann geht der Märchenheld oder die Märchenheldin durch einen Prozess hindurch. Oft ist es ganz schlimm. Er oder sie weiß nicht mehr, wie es weitergehen soll. Und dann kommt die unverhoffte Lösung. Wenn ich mich auf diese Bilder einlasse, wecken sie Gefühle in mir. Ich leide mit der Protagonistin, die im Sarg liegt, mit und ich freue mich mit ihr, wenn der vergiftete Apfel rauskommt und sie wieder ganz lebendig wird. Wir Menschen haben, wie ich anfangs gesagt habe, eine grundlegende Hoffnung. Und Märchen vermitteln diese Hoffnung.
Brauchen wir Märchen jetzt, während der Pandemie, mehr denn je?
Märchen sind etwas sehr Schönes, aber man muss einen Zugang zu ihnen haben. Manche Menschen schauen sich Filme an, die auf einer ähnlichen Struktur beruhen. Nicht die Filme, in denen am Schluss alles kaputt geschossen ist, sondern sentimentale Filme. Im Moment braucht man, glaube ich, eher das, was wir sentimental nennen, was auch stark mit diesem Ergriffensein, dem Kama Muta, zusammenhängt. Wo man das Gefühl hat, dass es, auch wenn es zwischenzeitlich ganz übel ist, doch noch eine gute Lösung gibt. Und diese unverhoffte Lösung - die ist das Kreative. Plötzlich bricht etwas in uns auf, plötzlich haben wir eine Idee. Das können wir nicht aktiv herbeiführen. Wir können uns nur der Situation aussetzen und uns unseren Gefühlen stellen. Dann entsteht das.
Krisen können idealerweise auch als Chance gesehen werden. Die Chance, die wir jetzt wahrnehmen können, ist, uns wieder auf die kleinen Dinge zu besinnen, die uns Freude bereiten. Habe ich das richtig herausgehört?
Ja, das haben Sie. Es geht darum, wieder auf die Innenwelt zu fokussieren. Zu merken: Wir haben eine Innenwelt. Zu merken, wie wichtig uns die Menschen sind, wie wichtig uns die Natur ist. Vielleicht gehen wir mit unserer Umwelt künftig ja auch ein bisschen besser um. Im Moment kann man den Ausdruck "Die Krise ist eine Chance" aber eigentlich schon gar nicht mehr aushalten. Natürlich lernen wir etwas aus der Krise. Aber sie ist eben nicht nur eine Chance. Für viele Menschen ist sie eine enorme Belastung. Innerhalb von vier Monaten ist die Zahl der Depressiven aufs Doppelte angewachsen.
Glauben Sie, die Corona-Krise wird uns nachhaltig verändern?
Ja, das wird sie. Das ist ein ganz großer Einschnitt. Ich kann Ihnen jetzt zwar nicht sagen, wie sie uns verändern wird, aber ich weiß zum Beispiel von einigen Menschen, die sagen: "In das Hamsterrad, in dem ich vor der Krise war, geh' ich nicht mehr rein." Oder: "Meinen täglichen Spaziergang lass' ich mir nicht mehr nehmen." Oder: "Ich will nicht mehr so viele Beziehungen, sondern nur mehr ein paar und dafür gute." Das wäre schon mal ein Anfang. Außerdem könnte ich mir vorstellen, dass wir uns jetzt mehr um die Klimakatastrophe kümmern. Immerhin wissen wir jetzt, was alles möglich ist, wenn Not am Mann oder an der Frau ist. Und irgendwann wird einem auch klar, dass Geld nicht wirklich das Problem zu sein scheint. Also warum es nicht in die Umwelt stecken!? Was nützt uns das Geld, wenn wir keine Erde mehr haben?
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Die guten Vorsätze sind da. Keine Frage. Oft passiert es aber, dass sie uns nach einer gewissen Zeit wieder abhanden kommen.
Vielleicht kehren wir zuerst auch wieder zum Alltag zurück. Oft gibt es ja diesen Backflash, dass Menschen, die etwas Schweres durchgemacht haben, sagen: "Ich hab mich jetzt verändert." Und dann wird doch wieder alles wie zuvor. Dann merken sie aber: "Nein, so will ich es wirklich nicht mehr!" Also: Wir sollten da nicht zu ungeduldig sein.
Nicht jeder ist immer in der Lage, hoffnungsvoll in die Zukunft zu blicken. Wie kann man anderen Zuversicht geben?
Das soll man nicht und das kann man auch gar nicht. Wenn jemand gerade nicht zuversichtlich ist, ist das in Ordnung. Es gibt keinen Zwang, zuversichtlich zu sein. Man muss die Gefühle haben, die man hat. Und diese Gefühle muss man ausdrücken dürfen. Und wenn man das tut, dann kommt die Zuversicht oft von allein. Ich selbst habe gerne Menschen um mich, die zuversichtlich sind. Und ich finde es sehr gut, wenn man die eigene Zuversicht zum Ausdruck bringt. Aber zu versuchen, jemand anderem Zuversicht aufzudrücken, wäre falsch.
Was brauchen wir jetzt ganz besonders, um psychisch gesund zu bleiben?
Wir müssen uns wahrnehmen, unsere Gefühle wahrnehmen. Unsere Gefühle ausdrücken, mit anderen Menschen sprechen, nicht erwarten, dass alles von selbst gut wird. Vor allem aber müssen wir die positiven Gefühle wahrnehmen. Wir dürfen nicht in dieser Angst, in diesem Grau verharren, sondern müssen schauen, wo auch ein bisschen etwas Strahlendes ist. Und wir sollten langsam anfangen, gute Vorstellungen davon zu haben, wie es nach der Krise sein wird. Sehen Sie, der Frühling kommt bestimmt. Und das ist ja schon ein Bild, das wir haben können, wenn es schmuddelig ist. Zu wissen, dass Frühling kommt, gibt uns sofort ein anderes Gefühl. Das gibt uns Hoffnung.
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