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Warum Griechisch und Latein unverzichtbar sind

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Sprachen - Warum Griechisch und Latein unverzichtbar sind

©Shutterstock/Theastock
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Die Sprachen der klassischen Antike werden zusehends aus dem Unterricht eliminiert. Wir fragten bei führenden Köpfen nach den Gründen und empfingen teils leidenschaftliche Plädoyers für die Freiheit des Denkens. Vom Nobelpreisträger bis zur jungen Hollywood-Größe aus Wien ist man sich einig.

So viele Leserbriefe hat der am Bildungssystem verzweifelnde Hersteller dieses Berichts – sechs Jahre Latein, vier Jahre Griechisch im Wiener Wasagymnasium – selten abgefangen. Gegenstand einer Flut bestärkender Zuschriften war die Kolumne "Spitzentöne" mit dem Titel "Die Analphabeten haben schon fast gewonnen". Es ging gegen eine Verordnung der Bundesregierung: Die Gebärdensprache soll verbindlich in die Lehrpläne der gymnasialen Oberstufe Eingang finden, und zwar "anstelle von Griechisch oder Latein" als sogar maturafähiges Wahlpflichtfach.

Bei aller Wertschätzung für die Gebärdensprache nimmt sich das so widersinnig aus, als sollten bundesweit die Brillen eingezogen und dann veräußert werden, um damit Rollstühle für Bedürftige finanzieren zu können. Die Maßnahme erscheint wie die logische Fortsetzung der Marginalisierung des Deutschunterrichts: Dem Gesetzestext der unseligen Zentralmatura folgend, wurde der Fokus von Goethe, Kleist, Brecht und Handke auf Leserbriefe, "Meinungsreden" und Bewerbungsschreiben verlegt.

Anlass genug, um bei den hellsten Köpfen über den Nutzen der klassischen Bildung nachzufragen. Die Antworten sind unmissverständlich: Der Physiknobelpreisträger Anton Zeilinger, 78, und der Festwochen-Intendant Milo Rau, 47, der in St. Gallen ab der ersten Gymnasialklasse in Griechisch und Latein unterwiesen wurde, setzen auf Sokrates, Sophokles und Euripides. Der 28-jährige Wiener Schauspielstar Felix Kammerer meldet sich vom Dreh mit Christoph Waltz in Toronto. Altbundespräsident Heinz Fischer legt mit der Weisheit seiner 85 Jahre nach, obwohl er auch gegen einen gediegeneren Englischunterricht nichts einzuwenden gehabt hätte. Ob diese Köpfe gegen die Gewissheiten der bildungsfernen Zeit anrennen können, wird scharf zu beobachten sein.

"Die Beziehung zur Gegenwart zählt"

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"Die Beziehung zur Gegenwart zählt"

Heinz Fischer

 © News/Matt Observe

Wie blicken Sie auf den Griechischunterricht zurück?
Ich habe viel von ihm profitiert, auf der Gegenseite der Bilanz steht allerdings, dass uns Englisch erst ab der fünften Klasse als Freifach angeboten wurde. Da ist die Abwägung nicht ganz leicht, aber ich bereue die Zeit für die klassischen Sprachen nicht.

Weshalb?
Sie haben mir im Verständnis für vieles geholfen. In unserem Griechischunterricht wurden die Probleme der antiken Welt in eine Beziehung zur Gegenwart gebracht: das Problem des Krieges, der so viele Opfer fordert, der Flucht, der Loyalität. Und die vielen Beispiele aus unserer Begriffswelt! Man kann kaum zwei Sätze ohne griechische Wurzeln sprechen, denken wir an Psychologie, Astronomie oder Philanthropie. Das Griechische ist auch eine so bunte Sprache mit den vielen irregularen Verba aus unterschiedlichen Räumen! Meine "Sehr gut" hatte ich allerdings in Geschichte, Physik und Turnen.

Und die Idee, statt Griechisch und Latein die Gebärdensprache anzubieten?
Das Bemühen um die Gebärdensprache ist schätzenswert, aber sie ist eine Technik zur Überwindung einer Behinderung und hat mit Sprachkenntnissen nichts zu tun. So wie ich immer noch stolz bin, mit hohem Tempo Morsesignale senden zu können. Das hat mir nur beim Bundesheer gute Noten und Ausgang verschafft.

Dr. Heinz Fischer, Jg. 1938, Altbundespräsident
Öffentliches Gymnasium Wien, Fichtergasse Griechisch, Latein

"Mein Geheimgang in unsere Welt"

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"Mein Geheimgang in unsere Welt"

Felix Kammerer

 © News/Matt Observe

Weshalb haben Sie sich für Altgriechisch entschieden?
Das weiß ich selbst nicht so genau. Ich hatte schon die Jahre davor mit Latein große Schwierigkeiten. Von Altgriechisch wurde mir daher stark abgeraten, weil es noch komplizierter, lernaufwendiger etc. als Latein sei. Aus irgendeinem unerfindlichen Grund entschied ich mich trotzdem für Altgriechisch – aus reinem Bauchgefühl. Ich hatte den Eindruck, mit dieser Sprache einen Geheimgang in eine Welt zu finden, aus der alles mir Bekannte entstanden war; eine Art soziokulturelle Archäologie – ich hatte einfach Lust, zu graben.

Wie war es, diese Sprache und ihre Kultur zu erlernen? Haben Sie jemals bereut, nichts Näherliegendes genommen zu haben?
Ich habe schnell gemerkt, dass ich zwar Lust hatte zu forschen, aber nicht zu üben. Mir fehlten damals die Motivation und die Geduld zum Vokabel- oder Grammatiklernen. Allerdings hatte ich das größte Glück, eine fantastische Altgriechisch-Lehrerin zu haben. Mag. Michaela Masek unterstützte mich, wo sie nur konnte, wofür ich ihr bis heute unglaublich dankbar bin. Dank ihr habe ich es zu keinem Zeitpunkt bereut, mich für Altgriechisch entschieden zu haben – egal, wie schwer es war.

Was hat es Ihnen gebracht? Hatten Sie auch beruflichen Nutzen davon?
Ich finde es unsinnig, nach Momenten zu suchen, in denen ich Schulwissen in meinem Alltag anwenden konnte – das würde weder der Schule noch dem Unterrichtsfach gerecht werden. Trotzdem habe ich mich bis heute durch den Altgriechisch-Unterricht bereichert gefühlt: intellektuell und emotional. Die eigene Sprache wird nicht mehr als selbstverständlich gesehen und das stärkt die Kommunikationsfähigkeit – eine wunderschöne Erfahrung, die viel mit Demut und Neugier zu tun hat.

Und wie war es mit Latein?
Latein hat mich nie so sehr gepackt wie Altgriechisch. Warum, weiß ich bis heute nicht.

Würden Sie jungen Leuten empfehlen, diesen Bildungsweg einzuschlagen?
Ich würde es nicht empfehlen, ich würde es aufdrängen.

Und wie wäre der Schaden beschaffen, wenn nach Griechisch auch Latein am Verschwinden wäre?
Das wäre fatal. Ich war jedes Jahr kurz davor, wegen Latein oder Altgriechisch die Klasse nicht zu schaffen, und trotzdem werde ich für immer dankbar sein, diese Sprachen kennengelernt zu haben. Diejenigen, die Latein und Altgriechisch aus den Lehrplänen streichen wollen, tun das entweder aus Popularitätsgründen oder weil sie den Wert von Sprache und Kultur nicht verstehen.

Ihre klassischen Lieblingswerke?
"Die Bakchen" des Euripides, "Werke und Tage" von Hesiod.

Felix Kammerer, Jg. 1995, Schauspieler
Wasagymnasium, Wien Griechisch, Latein

"Menschenbildung nennt man das"

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"Menschenbildung nennt man das"

Anton Zeilinger

 © News/Ricardo Herrgott

Man war sich zu Beginn weitgehend einig, dass Sie ein wissenschaftlicher Sonderling sind, der eigentlich ein Orchideenfach bekleidet ...
Mit diesem Wort kann ich nichts anfangen. Ich habe zum Beispiel im Gymnasium Fichtnergasse vier Jahre Altgriechisch gelernt, so wie auch Heinz Fischer. Eines meiner Schlüsselerlebnisse war die Verteidigungsrede des Sokrates, die Apologie. Das ist ein Augenöffner! Weil man merkt, dass die menschlichen Probleme damals genau die gleichen waren wie heute. Man sieht die heutigen Dinge dann nicht mehr als so zentral, wenn man das begriffen hat.

Ist das nicht schlimm, dass diese Bildung verloren geht?
Ja, das ist ein schwerer Fehler unseres Erziehungssystems. Ich wurde seinerzeit von der Frau Ministerin Gehrer gefragt, wo es in der Schule fehlt. Da war es gerade modern, Computer einzuführen, und ich habe gesagt, dass es vollkommen überflüssig ist, das in der Schule zu unterrichten. Warum die Lehrer damit quälen, wo doch die Schüler viel mehr davon verstehen? Aber ich würde dafür sorgen, dass in jeder größeren Stadt in Österreich ein Gymnasium existiert, das ausschließlich humanistisch ist. Wo man Griechisch nicht abwählen kann. Das ist eine Gesamtbildung, die man nicht in einen Sonderkurs abschieben kann: Menschenbildung nennt man das. Die Ministerin dachte, ich mache einen Witz. (Aus dem News-Interview zum Nobelpreis)

Univ.-Prof. Dr. Anton Zeilinger, Jg. 1945, Nobelpreis für Physik
Öffentliches Gymnasium Wien, Fichtnergasse Griechisch und Latein

"Die Fähigkeit des Hinterfragens"

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"Die Fähigkeit des Hinterfragens"

Markus Hengstschläger

 © IMAGO/SEPA.Media

Welchen Nutzen bringen heute die klassischen Sprachen?
Das bereits vorhandene Wissen ist die Basis des Forschens, sonst wird man auf dem Weg der Innovation zurückgeworfen. Serendipität nennt man das: den Zufall, der einen oft über eine ganz andere Materie zur neuen Erkenntnis bringt. Wenn man da nicht einen Grundstock an Wissen hat, dann kann man nicht über den Tellerrand denken.

Spezialisierung genügt nicht? 
Wenn wir zu sehr spezialisieren, unterbinden wir das Denken in neuen Zusammenhängen. Man muss die alten Lösungen kennen, um zu wissen, dass man mit ihnen nicht mehr das Auslangen findet. Dort, wo Dinge, die nicht auf den ersten Blick zusammengehören, zusammenstoßen, sind die neuen Ideen zu Hause.

Was hat Ihnen Latein gebracht?
Da ich ursprünglich Biologie studiert habe, hatte ich unablässig mit lateinischen Begriffen zu tun. Das ist der vordergründige Nutzen. Und dann halten Konjugieren und Deklinieren den Zugang zu den Formen und Ritualen frisch.

Man erwirbt sich damit Unabhängigkeit?
Eine breite Bildung ermöglicht kritisches Denken, die Fähigkeit, zu hinterfragen. Sie macht aus einer Gesellschaft eine recherchierende Gesellschaft, weil sie uns lehrt, eine seriöse Quelle von Unsinn und Evidenzbasiertheit von den Bauchgefühlen irgendwelcher Leute zu unterscheiden.

Univ.-Prof. Dr. Markus Hengstschläger, Jg. 1968, Genetiker, Bildungsforscher
Öffentliches Gymnasium in Linz Latein

"Tragödie ist Traumabewältigung"

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"Tragödie ist Traumabewältigung"

Milo Rau

 © IMAGO/Sabine Gudath

Sie haben ab der ersten Gymnasialklasse Latein und Griechisch gelernt?
Ich hätte auch noch Hebräisch dazunehmen können, aber dass ich Griechisch statt Englisch wählen würde, war mir immer klar. Die Philosophen, die Tragödien- und die Komödiendichter haben ihre Werke innerhalb von nur 200 Jahren geschaffen, die Tragödien sogar in etwas weniger als 50 Jahren! Die Frage ist, wie das möglich war. Es hat einerseits mit dem Aufstieg Athens zu tun, in einem nicht endenden Bürgerkrieg aller Städte gegen alle. Ab und zu kamen die Perser ins Spiel, da waren die anderen dann kurz geeint. Athen hat seine Kräfte wahnsinnig überspannt, aber warum hat sich eine kleine Stadtgemeinschaft, die im totalen Auslöschungskrieg gestanden ist, außer einer Flotte und einem Landheer auch Kunst und Kultur auf allerhöchster Ebene geleistet? Weil es eine existenznotwendige Investition war. Einerseits, um herauszufinden, wer man eigentlich war, und andererseits zur Traumabewältigung. Die Männer kamen als Täter heim, und am Beginn der „Orestie“ protzt Agamemnon fünf Seiten lang mit seinen Vergewaltigungen und Morden, eine fast pornografische Redesucht über die eigene Verwerflichkeit. Es war eine kollektive Redetherapie für die Heimkehrer.

Und wie können wir davon profitieren?
Das tragische Denken gesteht immer auch der Gegenseite die Möglichkeit zu, dass die Wahrheit auf deren Seite sein könnte und wir uns vielleicht geirrt haben. Dieses zuinnerst demokratische Prinzip ist heute gar nicht mehr denkbar, am wenigsten in der Politik. Die Wissenschaft ist sich etwa darüber einig, dass es zur Mitte des Jahrhunderts um fünf Grad heißer sein wird, aber die Grünen können nicht einmal die Geschwindigkeit der Autos herunterbringen. Wir sind in einer Handlungsunfähigkeit gefangen, sind nur noch Konsumenten von Handlung, während die Griechen in einem ständigen Überquellen der Handlungsmöglichkeiten waren. Von diesem Handlungsextremismus fühlt sich meine aktivistische Seite sehr angezogen. Deshalb habe ich die griechischen Tragödien auch immer ins Heute versetzt, die Probleme sind viel globaler und düsterer als unsere jeweils aktuellen Minidebatten. Bei den Griechen lernt man, dass es immer um alles geht.

Wenn nun die Regierung beabsichtigt, Latein als Wahlfach gegen die Gebärdensprache zu marginalisieren?
Ich habe in der Schule Englisch abgewählt und später auf der Straße nachgelernt, und ich sage auch immer meinen Kindern: Du wirst Griechisch nie wieder in deinem Leben lernen. Das machst du nur in der Schule, und nur der Teenagergeist hat eine unpraktische Vernunft. Aber der Intellektuelle, erst recht der Künstler, steht nie auf der Seite des Praktischen! Außerdem kann man in eine fremde Sprache tiefer eindringen als in die eigene und begreift damit erst die Verfasstheit der eigenen. Ich würde gern allen Kindern und Jugendlichen die Erkenntnis zumuten, dass es Texte gibt, die man nicht überfliegen kann, sondern Wort für Wort mühsam übersetzen muss.

Milo Rau, Jg. 1977, Regisseur, Intendant der Wiener Festwochen
Gymnasium in St. Gallen Griechisch und Latein

"Die Bildung steht unter Beschuss"

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"Die Bildung steht unter Beschuss"

Lisz Hirn

 © IMAGO/Manfred Segerer

Ist die klassische Bildung überflüssig, weil zu wenig nutzbringend?
Zu meiner Schulzeit hat Latein noch eine große Rolle gespielt, aber für den klassischhumanistischen Teil, der auch angeboten wurde, waren wir zu wenige. Das hat allerdings für die vielen in meiner Klasse, die sich für Geisteswissenschaften interessiert haben, später große Nachholarbeit in Griechisch bedeutet. Der Kampf um die klassische Bildung ist härter geworden, weil ständig die Frage der Nützlichkeit gestellt wird. Ein noch gravierenderes Beispiel betrifft das klassische Sanskrit, das an der Uni Graz abgeschafft wurde. Heute leben die internationalen Beziehungen mit Indien auf, und wir wären froh, wenn wir dieses winzige Institut, das kein Ressourcenfresser war, wieder hätten. Die Frage der Nützlichkeit ist damit widerlegbar: Wir wissen nicht, was wir künftig brauchen, und zum guten sprachlichen Verständnis ist zumindest Latein unerlässlich. Griechisch wäre es auch, aber ich bin schon froh, wenn wir Latein retten können. Derzeit steht das generelle Verständnis von Bildung unter Beschuss, und damit erhebt sich die Frage, ob wir Geschichte, Literatur, Musik, Rhetorik, das Wachsen und den Wechsel der Sprachen überhaupt noch ernst nehmen. Oder ob wir sie und ihr Verständnis für überflüssig erklären.

Dr. Lisz Hirn, Jg. 1984, Philosophin
Öffentliches Realgymnasium Leoben Latein

Dieser Beitrag ist ursprünglich in der News-Printausgabe Nr. 19/2024 erschienen.

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