Endstation Wien und die Busfahrer

Alle aussteigen, bitte

von Peter Sichrovsky © Bild: News/Ricardo Herrgott

"Ich beneide dich um deine Abenteuer", sagte Franz. Wir saßen wiedermal in einem Café in der Innenstadt. Vier Pensionisten mit kleinen Beschäftigungen, die den Alltag aufheitern, uns in einer begrenzten Wichtigkeit zurück-und die Ersetzbarkeit vergessen lassen. "Warum beneiden? Du hast ein anderes Leben geführt, das war nicht besser und nicht schlechter", antwortete ich. Er hatte auf meine Erzählung reagiert, als unser Koch während der Zeit, die ich in Delhi lebte, das Geld für Lebensmittel, das ich ihm jeden Tag gab, für Schnaps verwendete. Nachdem ich ihn entlassen musste, kam der Besitzer des Lebensmittelgeschäfts und brachte eine drei Meter lange Papierschleife mit dem Geld aufgelistet, das ich ihm schuldete.

"Ich war Leiter der Busfahrer bei der Gemeinde Wien, wie kannst du das vergleichen?", sagte Franz verärgert. Die zwei anderen, Gerhard, ein pensionierter Kinderarzt, und Robert, der als Mittelschullehrer eben erst seinen Ruhestand angetreten hatte, nickten zustimmend. "Immer, wenn wir uns treffen, kommst du mit deinen Erlebnissen, weit weg, irgendwo. Was haben wir schon zu erzählen?", sagte Gerhard. "Ich könnte dir die verschiedenen Farbtöne der roten Popos meiner Patienten beschreiben." Sie lachten. Mir war nicht wohl in meiner Haut.

Busfahrer

"Hättet ihr nicht die Busfahrer koordiniert, die Kinder unterrichtet und die Kranken versorgt, hätte ich nicht in Indien als Journalist arbeiten können", versuchte ich, die Situation zu retten. Es war ruhig einen Moment, sie machten Gesichter, als ob sie nachdenken würden.

"Wie meinst du das?", fragte Robert., "Das verstehe ich nicht." Und Franz ärgerte sich: "Du machst dich lustig über uns." "Ich glaube, was Peter meint, es müssen auch die Busse in einer Stadt funktionieren, es kann nicht jeder in der Welt herumfahren", sagte Robert. "Also, wir drei hatten ein eintöniges und langweiliges Leben, damit du deine Abenteuer genießen konntest?", fragte Franz. "Ja, so ähnlich", sagte ich, und wir lachten alle.

"Denkt an das Riesenrad", sagte ich, "die Gondeln können sich nur im Kreis bewegen, alle paar Minuten die nächste, mit oft wundervoller Aussicht, wenn die Mitte und das Fundament den notwendigen Halt bietet, und irgendwer muss an der Kasse sitzen und Karten verkaufen."

"Wir drei sind also Fundament, Gerüst und Fahrkartenhäusl und du eine Gondel?", fragte Gerhard. Wir lachten wieder. "Nimm doch eine meiner Reisen, sie beginnt mit dem Taxi zum Flughafen, Einchecken, Security, Passkontrolle, Pilot, Stewardess, Koffer aufs Flugzeug, nach dem Landen wieder Passkontrolle, Gepäck, Taxi, bevor ich das Hotel erreiche, ermöglichen mir vielleicht 100 Personen diese Reise, die wahrscheinlich ihr Leben lang den gleichen Job in der selben Stadt machen", sagte ich.

Wiederholungen

"Wir drei Busfahrer", sagte Gerhard leise. "Ich hatte sogar eine schulfeste Stelle", sagte Robert, "als wollten sie mich davor beschützen, in einem anderen Bezirk in Wien zu unterrichten, es war die Sicherheit eines Friedhofs."

"Ihr lebt die Wiederholung und ich die Abwechslung, weder das eine noch das andere ist weniger gut oder besser, die Unruhe lebt von der Stabilität der Ruhe", sagte ich. "Und was sollten diese Wiederholungen für Vorteile haben?", fragte Robert. "Ihr habt Freunde hier, und nicht in Delhi und Hongkong, die ihr nie wieder seht, eine vertraute Umgebung, ein Café, in dem der Ober mit euch plaudert, eure Kinder wechseln nicht die Schulen ständig, es gibt ein Zuhause, eine Heimat, eure Enkelkinder kommen Sonntag Abend zum Essen und leben nicht in der Welt verstreut", sagte ich.

"Meine Herrn, noch eine Runde?" Der Ober stand vor ihnen. "Drei Achterln bitte, und du bleibst beim Kaffee?", fragte Robert und sah Peter an. Der nickte und sagte: "Ich versteh nicht, wie ihr am Vormittag schon ein Achtel nach dem anderen trinken könnt.""Training", sagte Gerhard, "das Training der Busfahrer." Sie lachten. Es war dieses Lachen des Erzählers, das gleich nach einem Scherz kommt, die anderen folgen ihm. Auch der Ober grinste und fragte: "Kleinen Braunen oder noch eine Melange?""Melange", sagte ich.

"Wenn du ein Leben lang in Wien lebst, musst du trinken", sagte Robert, "nicht viel, aber ständig, um einen gewissen 'Level' zu halten." "Ich weiß", sagte ich, "ich war erst eine Woche in Wien zurück, als ich einen Studienkollegen traf, zufällig auf der Straße, nach der begeisterten Begrüßung sagte er: 'Komm, gehen wir auf ein Steh-Achterl', es war zehn Uhr Vormittag."

Kaffeehaus

"Warum bist du überhaupt nach Wien zurückgekommen?", fragte Franz, der lange geschwiegen hatte. "Eine gute Frage", antwortete ich, "vielleicht die Bequemlichkeit der Stadt, die Gesundheitsversorgung, der perfekte öffentliche Verkehr, der Wiener Wald, die Cafés, das Essen."

"Er erwähnt uns gar nicht", sagte Franz, "wir bewundern ihn, und er schwärmt von der Gesundheitsversorgung, vielleicht ist das der Unterschied zwischen dir und uns, du redest von praktischen Vorteilen, und für uns ist es ein Zuhause mit Freunden." Er hatte recht, ich kam nicht wegen der Freunde zurück.

"Du bist hier, weil es nicht weitergeht", sagte Gerhard, "Wien ist die Endstation deines Lebens, du musst aussteigen, es geht nicht weiter." Ich dachte an seine Worte und sagte nichts. "Das ist gut", sagte Franz, "das gefällt mir, die letzte Station, spätabends, bevor der Bus in der Garage eingestellt wird, erinnert mich an meine Arbeit."

"Du bist müde und erschöpft von der Fremdheit, deshalb bist du hier", sagte Robert, die anderen nickten. "Hier kannst du auf angenehme Art resignieren, niemand erwartet von dir, optimistisch, fröhlich, gesprächig und humorvoll zu sein, im Gegenteil, es würde nur stören, deshalb bist du zurückgekommen, die Bequemlichkeit ist nur ein zusätzlicher Effekt wie das Schlagobers auf der Torte", sagte Gerhard.

Kahlenberg

Ich fühlte mich ertappt wie als Kind bei einer Lüge. Er hatte verdammt recht, der Gerhard. Das Zurückkommen gleicht einem Aufgeben, jedoch ohne Verzweiflung. Die Idee von der Pension im kleinen Haus in Südfrankreich oder der Wohnung am Strand in Florida wurde ersetzt durch Grinzing mit dem kalten Lächeln der Billa-Verkäuferin, die Brot, Eier und Butter blitzschnell weiterschiebt, die Bezahlung erwartet, während man verzweifelt alles in eine Tasche stopft und sie bereits Milch, Käse, Äpfel und Tiefkühlspinat des nächsten Kunden einem entgegenschleudert. Statt der Sonne in Florida der graue Himmel von November bis Februar. Die als oberflächlich kritisierte Freundlichkeit der Amerikaner ersetzt mit dem Kommentar des Nachbarn, ich hätte schon wieder die Schachteln nicht flach genug getreten, bevor ich sie in den Kübel für Papier warf, und die Aufregung auf dem Weg hinauf den Kahlenberg, weil mein Hund nicht an der Leine geht. Sie machen Fotos und drohen, es der Polizei zu melden.

Sicherheit

"Warum tu ich mir das an?", sagte ich, mehr zu mir selbst als zu den anderen. "Weil du so bist wie alle anderen, wie wir, auch wenn du in Delhi mit dem Koch gestritten hast, das ändert nichts", sagte Franz und sie lachen wieder. "Wie der Prokopetz in seinem Kabarett sagt: 'Einmal wird jeder zum Wiener', und recht hat er." Mich quälten plötzlich Erinnerungen, als ich mir nach dem Studium vorgenommen hatte, Wien zu verlassen und nie wieder zurückzukehren. Jetzt lebe ich hier und bin zu dem geworden, vor dem ich immer flüchten wollte. Die Heimat folgt und verfolgt, lässt sich nicht abschütteln. Zwei Dinge wird man nie los: den Geruch der Küche der Mutter und den Akzent der Muttersprache.

"Freiheit und Sicherheit widersprechen einander", sagte Robert, "die Sicherheit in Wien hat seinen Preis wie ein Käfig, in den dreimal im Tag das Essen hineingeschoben und der Abfall entfernt wird. Dafür hast du ein perfektes Rad, auf dem du laufen kannst, und es dreht sich besser als in anderen Käfigen, es wird regelmäßig geölt. Du bist davongelaufen, einmal rund um die Welt, und, statt irgendwo zu bleiben, hier wieder angekommen."