"Ich möchte ewig leben"

Kinderbuchautorin Christine Nöstlinger im Interview

Am 13. Oktober feiert Christine Nöstlinger ihren 80. Geburtstag. Anlässlich der Verfilmung ihres autobiografischen Romans "Maikäfer, flieg!" sprach die Autorin, die mit mehr als 150 Kinderbüchern bis heute Generationen prägt, mit News über ihr bewegtes Leben.

von Christine Nöstlinger © Bild: Sebastian Reich

Sind Sie mit der Angst aufgewachsen, Frau Nöstlinger?
Wenn man als Achtjährige im Keller sitzt und oben fallen die Bomben, hat man Angst. Aber wir hatten Lebensmittel aus einem aufgebrochenen Lager der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt und in der alten, zerstörten Wohnung sind wir ganz gut durchgekommen. Im Nebenhaus hatte eine Bombe eingeschlagen, der Luftdruck hatte uns die Fenster mitsamt den Stöcken herausgehaut. Die hat uns eine Tischlerin im Tausch für meinen Puppenwagen ersetzt.

Das war doch grausam!
Aber nein, das war ich gewohnt. Meine Mutter war Kindergärtnerin mit Beziehungen zu Spielwarenhändlern und hat mir immer herrliche Weihnachtsgeschenke gemacht, die aber schon im Februar wieder auf den Schwarzmarkt geworfen wurden. Ich habe das Hergeben gelernt. Nur das Wort "Frieden" hat mir nichts gesagt. Einmal habe ich meine Mutter gefragt, was das ist. Da hat sie gesagt: "Wenn's wieder Schinkensemmeln gibt." Mein Großvater, der ein aufrechter Sozialdemokrat war, hat mir erklärt: "Frieden ist, wenn die Sozialdemokratzie kommt" - so hat er das Wort ausgesprochen -"und dann sind wir im Paradies." Auf das warte ich noch heute.

Haben Sie begriffen, was den Juden widerfahren war? Sie waren zu Beginn der Deportationen ja noch ein Kleinkind.
Ich war sicher, schuld am Tod vom Herrn Fischl zu sein. Meine Mutter hat uns immer wieder erzählt, wie sie im Jahr 38 dem armen jüdischen Flickschuster Fischl nicht helfen konnte, als er mit der Zahnbürste die drei sozialdemokratischen Pfeile vom Gehsteig putzen musste. Und weil sie das vor sich selbst rechtfertigen musste, hat sie jedes Mal gesagt: "Wenn ich euch Kinder nicht gehabt hätte, wär ich ja hin und hätte denen etwas erzählt."

Und dann der fast bruchlose Übergang von der Nazizeit zur Zweiten Republik.
Das war meine größte Enttäuschung. Ich habe mir vorgestellt, dass jetzt die Sozialdemokratzie kommt, und die Nazis werden fürchterlich bestraft. Ich hatte es besonders auf die Frau Donner bei uns im Haus abgesehen, die immer mit "Hei'tler" gegrüßt und meiner Großmutter erzählt hat, dass wir bei der Gestapo fällig sind. Aber die waren alle noch da und nichts ist passiert, und ich habe es meiner Mutter übel genommen, dass sie mit denen redet.

Wie gefällt Ihnen denn der Ewigkeitsstatus, den Sie mit Ihren 150 Kinderbüchern einnehmen? Meine Frau und meine beiden Töchter sind mit Ihnen aufgewachsen.
Na ja, ich gebe zu, dass ich mich langsam an die älteren Damen gewöhne, die mir sagen, dass sie als Kinder meine Bücher gelesen haben.

Christine Nöstlinger
© Sebastian Reich/www.sebastianreich.com

Die Kreativität lässt nicht nach?
Doch, seit Jahren. Ich schreibe auch viel weniger. Ich habe eine Zeitlang fünfmal in der Woche einen Artikel für den "Kurier" und drei Bücher im Jahr geschrieben. In meinem Alter ist dieses Tempo nicht mehr durchhaltbar.

Wissen Sie am Anfang, wie es ausgeht?
Das glaube ich immer. Aber dann stellt sich heraus, dass die Menschen, die man beschreibt, sich weigern, das zu tun, was man mit ihnen vorgehabt hat.

Wie kommen Sie zu einer Figur wie dem Gurkenkönig?
Der Anlass war, dass mich ein Kind gefragt hat, was eine Revolution und was ein Putsch ist. Da habe ich zu denken angefangen: dass sich das Volk vom Gurkenkönig durch eine Revolution befreit hat und dass er die Macht durch einen Putsch zurückgewinnen will. Und dann hat es sich verselbstständigt.

Ist es Ihnen wichtig, dass Ihre Bücher in dreißig Jahren noch gelesen werden?
Nein. Ich wundere mich eher, dass sie jetzt noch gelesen werden. Meine Figuren haben keine Smartphones, nicht einmal Tablets, einige spielen noch Langspielplatten. Ich habe Kinder danach gefragt. Sie waren ganz erstaunt, als ich sie darauf aufmerksam gemacht habe.

»Ich könnte nie ein Buch über ein sportliches, ehrgeiziges Kind schreiben«

Vielleicht hat Ihre Wirkung damit zu tun, dass Sie über alle Zeitgebundenheiten verstehen, was in Kindern vorgeht?
Ja, aber das betrifft nur eine bestimmte Sorte von Kindern, immer solche, die mir in meiner Kindheit ein bisschen ähnlich waren. Und die ärmsten, die braven Kinder. Ich könnte nie ein Buch über ein sportliches, ehrgeiziges Kind schreiben. Ich höre auch immer wieder von erwachsenen Frauen: "Ihre Bücher haben mich getröstet." Aber das war nie die Absicht.

Sondern?
Kindern die Welt, in der sie leben, erklären, damit sie sie verstehen, wie ich es gern hätte. Indoktrinierung wäre zu viel, aber ich habe geglaubt, ich mache die Kinder gescheiter.

Sind sie gescheiter geworden?
Meine Töchter sind gescheiter als ich, das ist klar.

Wenn man Sie eine große Pädagogin nennt
... glaube ich kein Wort.

Was möchten Sie denn sonst mit Ihren Büchern? Vor allem Geld verdienen?
Ja, auch. Aber ich bin nicht geldgierig und hab mich auch nie nach besseren Verlagsverträgen gerichtet.

Aber es geht Ihnen gut?
Na ja. Man verdient mit Kinderbüchern immer weniger. Die Verlage bemühen sich, Bücher billiger zu machen, was ja nicht schlecht ist. Ein Kinderbuch kostet heute zehn Euro, davon bleiben mir zehn Prozent. Aber ich kann davon leben. Früher, als man von der Bank noch vier Prozent Zinsen bekommen hat, hätte ich bescheiden 120 Jahre alt werden können. Heute könnte ich mit dem, was ich zurückgelegt habe, nicht lang existieren. Ich geb ja gern Geld aus.

Christine Nöstlinger
© Sebastian Reich

Wofür?
Für meine Töchter, die auch schon langsam alt werden. Die Barbara ist 57 und hat ein kleines Grafikunternehmen. Die Christiane ist 54 und betreibt in Belgien als Psychologin Aids- Prävention.

Waren Sie eine liebevolle Mutter?
Jedenfalls eine tolerante. Ich habe nicht eingegriffen in die Vorstellungen, die meine Töchter über ihr Leben hatten.

Ihr Mann war in der Erziehung auch aktiv?
Gar nicht. Er hat immer nur geschaut, dass den Töchtern durch mich kein Unrecht geschieht. Ihm ist selber in seiner Kindheit so viel Unrecht passiert, seiner Ansicht nach zumindest, dass er scharf dahinter war. Aber getan hat er nichts. Wenn die Scheiße am Dampfen war, hat er mich angeschaut und gesagt: "Ja Christerl, was wirst denn da jetzt tun?"

Vermissen Sie ihn noch?
Nicht sehr. Ich hab mich schon zu seinen Lebzeiten daran gewöhnt, dass er nicht da ist. Er war Redakteur beim Hörfunk und wollte immer den Roman des Jahrhunderts schreiben. Als ihm das nicht geglückt ist, ist er wunderlich geworden und hat sich zurückgezogen und den ganzen Tag gelesen. Und was die Kinder betrifft, war da ja auch das Achtundsechzigerjahr. Wir haben neue Vorstellungen von Aufzucht gehabt.

Hat sich denn die antiautoritäre Erziehung bewährt?
Aber nein, man muss sich ja nur anschauen, was aus den Kindern der Achtundsechziger geworden ist: stockkonservative Leute! Das wundert mich auch nicht, seit ich mir ein paar alternative Kindergärten angeschaut habe: In einem musste ein Kind immer den Hund spielen, jedes Mal. Ich hab dem Kindergärtner gesagt: "Jetzt mach doch etwas, dass der arme Bub nicht dauernd an der Leine herumgezogen wird!" Und der Kerl in seiner Latzhose erklärt mir, dass sich das die Kinder selber regeln müssen!

»Ich verstehe nicht, wie zwei Kinder ein drittes zu Boden schlagen und ein viertes steht dabei und nimmt es mit dem Handy auf«

Sind die Kinder heute glücklicher als früher?
Das weiß ich nicht, weil ich die zehn-, elfjährigen Kinder nicht mehr verstehe. Ich verstehe nicht, warum man Selfies macht und sich zugleich immer mehr in sich zurückzieht. Ich verstehe nicht, wie zwei Kinder ein drittes zu Boden schlagen und ein viertes steht dabei und nimmt es mit dem Handy auf. Ich versteh die Welt nicht mehr.

Wo stehen Sie eigentlich genau politisch?
Ich bin von Kindheit an in der Wolle sozialdemokratisch gefärbt. Mein Mann hat grün gewählt, meine Tochter war in der Jugend Kommunistin und ist dann ebenfalls grün geworden. Und einmal, als ich mich über die Sozialdemokraten besonders geärgert habe, dachte ich: Jetzt wähle ich auch grün. Aber da war meine Mutter dagegen.

Die hat noch gelebt?
Lassen Sie mich ausreden. Wir wurden in unserer Kindheit nie bestraft. Aber wenn etwas wirklich furchtbar war, hat meine Mutter als äußerste Sanktion gesagt: "Madl, jetzt scham di!" Ich steh also in der Wahlkabine und will bei den Grünen mein Kreuzl machen und höre von oben eine Stimme: "Madl, jetzt scham di!" Und brav hab ich wieder die SPÖ gewählt. Mit der grünen Reglementiererei habe ich ohnehin nichts im Sinn. Ich verwende auch kein Binnen-I. Ich schreibe nichts, was man nicht reden kann.

In Ihren alten Büchern kommt das Wort "Neger" vor. Was tun Sie da?
Wenn es neu aufgelegt wird, kommt neben dem Wort ein Stern und unten wird den Kindern erklärt, dass das damals kein negativer Ausdruck war. Die Karin, die Tochter der Astrid Lindgren, hat gestattet, dass der Negerkönig aus "Pippi Langstrumpf" jetzt "Südseekönig" heißt. Und wissen Sie, was die Folge war? Jetzt passt der Südseekönig irgendwem auch schon wieder nicht und man arbeitet an einer Formulierung mit Polynesier.

Möchten Sie so etwas nicht testamentarisch untersagen?
Wenn ich weg bin, ist mir das alles wurscht.

Kommt denn nichts nachher?
Nichts. Absolut nichts. So was von atheistisch wie ich gibt es kein zweites Mal.

Haben Sie keine Angst vor dem Moment, in dem es vorbei ist?
Am liebsten würde ich ewig leben. Ich finde, der Tod ist die größte Frechheit, die man einem Menschen zumuten kann. Aber es kommt auf den Zustand an. Mir geht es gesundheitlich nicht sehr gut. Das Herz will nicht, der Puls ist doppelt so hoch, wie er sein soll, die Knochen sind porös. Aber das Leben ist trotzdem noch ganz lustig. Wenn es einmal wirklich grauslich wird, werde ich schon ein Ende finden. Es soll nur niemand anderer über meinen Tod entscheiden dürfen. Und ich möchte auch niemanden anderen damit belästigen. So etwas soll man schon mit sich selber erledigen. Man muss nur den Zeitpunkt erwischen, solang man es noch kann.

Nun leben wir in einer Zeit der Zuwanderung, die Bevölkerungsstruktur ändert sich massiv. Darauf reagieren Sie in Ihren Büchern nicht.
Ich fände es absurd, ein Kinderbuch über ein zehnjähriges Türkenmädchen zu schreiben. Das müssen Menschen machen, die sich in dem Milieu auskennen. Wichtig wäre es, wenn ich mir das Erstarken der Rechten ansehe. Wenn man sich in der Welt nicht auskennt, will man einfache Lösungen und fällt auf den Blödsinn herein. Außerdem ist ein gewisser Prozentsatz der Leute einfach böse.

Meinen Sie, dass alle FPÖ-Wähler böse sind?
Nein, es gibt auch die dummen. Aber die bösen gibt es auch. Wenn ich mich im Internet herumtreibe und schaue, was da gepostet wird da kann man ja depressiv werden.

Haben Sie selbst Drohungen bekommen?
Aber ja, alle aus politischen Gründen, sogar Briefe, die mit Nadeln durchstochen waren. Mit dem Internet ist das eine Seuche geworden. Früher hat sich so einer hinsetzen und auf seiner Reiseschreibmaschine mühselig etwas tippen und das in ein Kuvert stecken und frankieren müssen und dann musste er zum Postkasten. Aber im Netz kann jeder Narrische sofort absondern, was er will.

» Frauen haben immer noch die größere Last zu tragen«

Verstehen Sie sich eigentlich als Feministin?
Ja. Frauen haben immer noch die größere Last zu tragen. Ich glaube eher, dass es einen gewissen Rückschritt gibt, und zwar auch von den Frauen selbst. Die jüngere Frauengeneration meint, Emanzipation wäre nicht mehr nötig, weil schon alles erreicht ist. Dabei haben sie gar nichts erreicht.

Nun gibt es eine Debatte, ob wir mit dem Islam nicht das Mittelalter importieren, gerade im Hinblick auf Frauenrechte.
Und was ist daran dramatisch? Dramatisch ist doch nur, dass die hiesigen Leute das Fremde nicht aushalten. Nach dem Zweiten Weltkrieg hat Deutschland 15 Millionen Menschen aus dem Osten integrieren müssen, und das Fremde ist nach drei Generationen nicht mehr fremd. Man spricht von Integration und meint Assimilation. Die sollen so denken wie wir, die sollen unsere berühmte Leitkultur haben. Ich finde einen Menschen auch integriert, wenn er andere Vorstellungen hat. Wenn er nicht gegen unsere Verfassung verstößt und sich hier ernähren kann, halte ich ihn für integriert.

Und Köln?
Immer diese Frage. Waren Sie schon einmal auf dem Münchner Oktoberfest? Ich schon, als ich noch jung und knusprig war, und ich habe mich der Hände, die unter meinem Rock waren, nicht erwehren können. Syrer ist mir dabei keiner aufgefallen.

Sind Sie glücklich?
Das ist man in Momenten. Das Glück gehört für besondere Anlässe. Ich bin zufrieden, aber auch nur mit meinem eigenen Leben. Wenn ich mir die Welt anschaue, bin ich weder glücklich noch zufrieden.

ZUR PERSON
Christine Nöstlinger wurde am 13. Oktober 1936 in Wien als Tochter eines Uhrmachers und einer Kindergärtnerin geboren. Sie studierte Gebrauchsgrafik und begann 1970 eine vergleichslose Karriere als Kinderbuchautorin. Sie hat zwei Töchter, ihr Ehemann Ernst Nöstlinger war Rundfunkjournalist. Christine Nöstlinger lebt in Wien-Brigittenau und auf einem Bauernhof in Niederösterreich.

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