Da dachte man, das C-Virus sei das Ärgste, was den Kulturbetrieb hätte treffen können. Doch jetzt wird die mühsam wiederhergestellte Normalität durch eine neue Welle an Widrigkeiten ausgelöscht. Nicht etwa durch Omikron oder Deltakron, sondern eine neue Variante der Cancel Culture. Die Ersten, die sie traf, sind die weltführende Sopranistin Anna Netrebko und der bedeutende Dirigent Valery Gergiev.
#CancelNetrebko
Anna Netrebko hätte mit ihrem Ehemann Yusif Eyvazov am 25. Februar in Aarhus, Dänemark, auftreten sollen. Da ist er wieder, der Konjunktiv, der die Kulturmeldungen zu Hochzeiten der Pandemie bestimmt hat: Das Konzert fand nicht statt, denn tags zuvor war die russische Armee in der Ukraine einmarschiert. Wie das Internetmagazin "Operawire" berichtet, forderten die Kulturpolitiker der Stadt Aarhus, Rabih Azad Ahmad und Mette Bjerre, die Veranstalter auf, das Konzert der gebürtigen Russin abzusagen. Azad Ahmad begründete das laut "Operawire" so: "Die Situation in der Ukraine ist historisch und fordert von uns, Nein zu sagen." Normalerweise sei er für die Trennung von Kultur und Politik, aber der russische Angriff sei nicht normal. "Wenn die UEFA das Champions-League-Finale verlegen kann, sollten auch wir Vorstellungen im Haus der Musik absagen können."
Auch auf Twitter manifestierten sich erste Proteste gegen die führende Sopranistin. Die Bayerische Staatsoper kündigte sämtliche Engagements und löschte auch Netrebkos Biografie von der Website. Während an der vom ehemaligen Staatsopern Chef Dominique Meyer geleiteten Mailänder Scala noch über ihre Auftritte in Cileas "Adriana Lecouvreur" im März beraten wurde, sagte sie dem Haus ab. Wenige Stunden später zog sie sich von sämtlichen Auftritten in den kommenden Monaten zurück. An der Zürcher Oper hätte sie zweimal Verdis Lady Macbeth singen sollen, an dieser sagte sie ebenfalls bereits ab. Im Festspielhaus Baden Baden waren Konzerte mit Kirill Petrenko und den Berliner Philharmonikern geplant, weitere in den russischen Nachbarländern Lettland und Estland sowie in Spanien. Im Wiener Konzerthaus soll das Paar Netrebko Eyvazov dem Veranstalter DEAG Classics zufolge am 2. Juli immerhin auftreten.
Man muss sich das vergegenwärtigen: Die Karriere der Weltmarktführerin in Opernbelangen gerät ernsthaft ins Wanken. Seit Anna Netrebko 2002 bei der Premiere des Salzburger "Don Giovanni" unaufhaltbar in den Himmel raste, hat die Aktie ständig zugelegt. Zu den Opernverpflichtungen kamen Konzerte, seit 2015 immer häufiger mit dem tenoralen Gemahl. Die Bühnenauftritte wurden spärlicher, aber gerade deshalb immer begehrter, denn die Netrebko erweiterte ihr Repertoire systematisch bis zur hochdramatischen Turandot. Jeder ihrer Auftritte war für jeden Veranstalter eine sichere Bank.
Neuerliche Proteste
Als sie in den vergangenen Monaten mehrere Auftritte absagte, weil ihr die endlosen Beschwerlichkeiten durch die Pandemie die Freude am Beruf genommen hätten, schrieb man noch von einem kleineren Weltuntergang. Jetzt nähert sich ein wesentlich massiverer, und das just im Moment der gestärkten Rückkehr: Zuletzt sang sie zum 150-Jahr-Jubiläum von Verdis "Aida" im Teatro San Carlo in Neapel noch mehrere Vorstellungen. Der Jubel war enorm, die Welt wieder in Ordnung. Bis sie vom russischen Despoten erschüttert wurde und sich in der Nacht vom 25. auf den 26. Februar die ersten Internetproteste gegen die Sopranistin formierten. Nicht zum ersten Mal in der 20-jährigen Karriere.
Was man Netrebko vorwirft
Zuletzt hatten sich die Ereignisse unfreundlich zugespitzt, nachdem Putin 2014 die Krim annektiert hatte. Im daraus resultierenden Bürgerkrieg wurde das Opernhaus von Donezk schwer getroffen, und Anna Netrebko spendete für den Wiederaufbau eine Million Rubel, damals 15.000 Euro. Das Problem jedoch war, dass im Sankt Petersburger Kempinski Hotel der prorussische Separatistenführer Oleg Zarjow den Scheck entgegennahm und der Netrebko die neurussische Flagge vor versammelter Presse in die Hand drückte.
Das österreichische Außenministerium kritisierte den Vorfall, denn Anna Netrebko ist seit 2006 russisch österreichische Staatsbürgerin. Auch die AUA, deren Werbepartnerin die Diva seinerzeit war, distanzierte sich. Anna Netrebko stellte damals per Facebook und auf ihrer Homepage klar, sie sei überrumpelt worden, hätte nicht einmal gewusst, welche Flagge sie da in Händen hielt. Die Sache war damit einigermaßen erledigt, obwohl die schon 2008 zur Volkskünstlerin Ernannte Putin 2012 im Wahlkampf unterstützt hatte.
Im vergangenen September feierte Nebtrebko ihren 50. Geburtstags im Rahmen einer vierstündigen Gala im Kreml. Das russische Fernsehen übertrug die Festivität für die bedeutendste Künstlerin des Landes live. Namhafte Kollegen wie Rolando Villazón, mit dem Anna Netrebko einst eine erfolgreiche Bühnenpartnerschaft verband, und Plácido Domingo traten auf. Putin ließ ein Glückwunschtelegramm verlesen, er selbst blieb dem Ereignis fern, weil er pandemiebedingt Menschenansammlungen mied. Kritik wurde keine verbucht.
Die meldete sich erst jetzt, Monate später, nach Putins Angriff auf die Ukraine. Und das in drastischem Ausmaß, das über kleinere Auftritte wie Baden Baden und Aarhus erheblich hinauszugehen droht. Die Bayerische Staatsoper kündigte alle Engagements von Anna Netrebko. In der "New York Times" las man soeben, künftige Netrebko-Auftritte an der New Yorker Metropolitan Opera seien gefährdet. Tatsächlich ließ Intendant Peter Gelb auf der Homepage des Opernhauses wissen, die "Met" werde nicht länger mit Putin Unterstützern zusammenarbeiten, "bis die Invasion und das Töten zu Ende sind, Ordnung wieder eingeführt wurde und Restitutionen vorgenommen wurden".
Was Anna Netrebko sagt
In dieser Situation meldete sich die Angegriffene am 26. Februar auf Twitter: "Ich habe mir einige Zeit zum Nachdenken genommen, denn ich denke, dass die Situation zu ernst ist, um sie unreflektiert zu kommentieren. Erstens: Ich bin gegen diesen Krieg. Ich bin Russin und ich liebe mein Land, aber ich habe viele Freunde in der Ukraine und der Schmerz und das Leid brechen mein Herz. Ich möchte, dass dieser Krieg endet und dass die Menschen wieder in Frieden leben können. Das hoffe ich und dafür bete ich. Ich möchte eines hinzufügen: Künstler oder andere öffentliche Personen zu zwingen, ihre politischen Meinungen öffentlich zu äußern und ihr Heimatland zu denunzieren, ist nicht richtig. Wie viele meiner Kollegen bin ich keine politische Person. Ich bin kein Experte in politischen Angelegenheiten. Ich bin Künstler und meine Absicht ist es, die Menschen über politische Unterschiede zu vereinen."
#CancelGergiev
Viele verstehen das als Unterstützung für den Dirigenten Valery Gergiev, der Anna Netrebko vor 28 Jahren am Mariinski Theater zu Sankt Petersburg entdeckt hat. Denn er steht seit Putins Angriff auf die Ukraine in einem Sturm der Empörung, gegen den sich Anna Netrebkos Probleme wie ein Lüftchen ausnehmen. Fünf Konzerte der Wiener Philharmoniker sollte Gergiev zuletzt in den USA dirigieren, drei in der New Yorker Carnegie Hall, zwei in Naples, Florida. Aktivisten hatten schon im Vorfeld zu Protesten aufgerufen, hatte doch der bekennende Putin Anhänger 2014 die Annexion der Krim gutgeheißen.
Auch hatten seine Auftritte in den USA mehrfach Proteste der Queer-Bewegung nach sich gezogen, weil er Putins repressive Politik gegen Homosexuelle unterstützte. Dennoch war der heute 68 jährige Maestro einer der weltweit gefragtesten, raste in einem wahren Höllentempo um den Globus, wurde 2015 Chefdirigent der Münchner Philharmoniker und leitet das Mariinski Theater, das ihm Putin um Milliardenbeträge ausbauen ließ.
Als gröbstes Vergehen wurde dem Vielbeschäftigten bisher angerechnet, dass er seine Dienstorte oft verspätet erreichte. Vor der aktuellen Tournee mit den Wiener Philharmonikern spitzte sich die Lage zwischen Russland und der Ukraine stetig zu. Sich anbahnende Proteste versuchte Orchestervorstand Daniel Froschauer im Vorfeld zu beschwichtigen: Gergiev komme nicht als Politiker, sondern als Künstler. "Wir sind keine Politiker. Wir versuchen, Brücken zu bauen", wurde Froschauer in der "New York Times" zitiert. Dann griff Putin die Ukraine an, und die Carnegie Hall forderte die Philharmoniker auf, den Dirigenten zu wechseln.
In seinem Statement hatte Froschauer ausgeführt: "Die Kultur darf nicht zum Spielball von politischen Auseinandersetzungen werden. Daher werden wir auch keine Kommentare zu politischen Themen in Bezug auf unsere Dirigenten oder Solisten abgeben. Die Musik hat für uns immer etwas Verbindendes und nichts Trennendes." Nicht so für die Veranstalter des Konzerts. Mit Gergiev musste auch der russische Pianist Denis Matsuev, ein Kulturberater Putins, abtreten. Der Hashtag #CancelGergiev, der sich auf Twitter verbreitete, manifestierte sich umgehend nicht nur in der virtuellen, sondern massiv auch in der wirklichen Welt.
Zeitgleich auch in München: Sollte sich Gergiev nicht bis 28. Februar, Mitternacht, vom Angriff auf die Ukraine distanzieren, werde man das Dienstverhältnis mit den Philharmonikern lösen. Gergievs Münchner Agent Felsner, der mit dem Maestro glänzende Umsätze getätigt hatte, kündigte den Vertrag schon zwei Tage vor Ablauf der Frist, die mittlerweile verstrichen ist.
Dominique Meyer, seit 2020 Direktorder Mailänder Scala, folgte der Aufforderung des Mailänder Bürgermeisters und lässt ihn nicht mehr an seinem Haus dirigieren. Dass Gergiev noch am Abend vordem Abflug in die USA nach der Premiere von Tschaikowskys "Pique Dame" bejubelt wurde, zählte nicht mehr. Die Festivals in Verbier und Luzern sagten seine Konzerte mit dem Mariinsky Orchestra ab. Das Edingburgh Festival entzog Gergiev das Amt des Ehrenpräsidenten.
Nachgefragt
Soll man nun auf Künstler wie Gergiev und Netrebko verzichten? Sie füllt die Häuser, singt unvergleichlich, und er, der Maestro, beschäftigt an seinem Haus mehr als 2.000 Menschen. Nicht auszudenken, was wäre, wenn der Gospodin dem Haus seine Gunst entzieht.
Der Philosoph Konrad Paul Liessmannsieht das differenziert: "Vielleicht wäre es immer schon besser gewesen, zwischen künstlerischen Leistungen und der politisch moralischen Gesinnung zu unterscheiden. Aber wir haben das romantische Bild vom sensiblen Künstler, der stets auf der richtigen Seite steht, doch sehr gemocht und akklamiert. Dass es auch Ambivalenzen gibt und Künstler nicht immer politisch oder moralisch einwandfrei sind, ertragen wir nur schwer. Ohne leises Unbehagen kann man die Tendenz zur moralischen Nötigung deshalb kaum verfolgen, ungeachtet dessen, was man vom Charakter der betroffenen Künstler halten mag", erklärt Liessmann.
Heute denke man bei der Verquickung von Kunst und Politik natürlich sofort an die Künstler, die sich dem NS Regime gegenüber willfährig verhielten. "Weniger irritierend finden wir die westlichen Künstler und Intellektuellen, die ohne Not Stalin hofierten", merkt Liessmann an und nennt Bertolt Brecht, Lion Feuchtwanger, Heinrich Mann, G. B. Shaw, Ernst Bloch, die zu den grauenhaften "Moskauer Prozessen" geschwiegen oder diese sogar begrüßt haben, und Jean Paul Sartre, der von Stalin nicht lassen wollte. "Es gab genug Intellektuelle", setzt Liessmann fort, "die die Massenmörder Mao und Pol Pot bewunderten, sich davon aber nie oder nur halbherzig distanzierten und denen das auch kaum zum Vorwurf gemacht wurde."
Und Heinrich Böll habe mit der RAF sympathisiert, fügt er hinzu, dennoch sei sein Nobelpreis nie zur Debatte gestanden.
Sanktionen der falsche Weg
Was also tun? Den diplomatischen Weg von Rudolf Buchbinders Festival in Grafenegg wählen? Man bedaure, dass Gergiev nicht bereit sei, sich vom Krieg der Russischen Föderation zu distanzieren, lässt das Festival via Twitter wissen. "Deshalb können wir an den geplanten Auftritten mit Valery Gergiev nicht festhalten. Wir hoffen aber, dass sich die beiden für heuer angekündigten Orchester Gastspiele aus Russland trotz der schwierigen Rahmenbedingungen dennoch umsetzen lassen, da wir der Überzeugung sind, dass der kulturelle Austausch nicht Opfer des Krieges werden darf."
Oder russische Künstler ausladen? Die Londoner Covent Garden Opera hat die Verträge mit dem Moskauer Bolschoi Ballett bereits aufgelöst. Das lehnt Liessmann dezidiert ab: "Natürlich könnte man den Kulturbetrieb in den Sanktionsmechanismus aufnehmen und staatsnahe oder in staatlichen Einrichtungen tätige russische Künstler im Westen mit einem Auftrittsverbot belegen, so wie im Sport nun die russischen Nationalmannschaften von den Bewerben ausgeschlossen werden. Angesichts des Muts vieler russischer Künstler, die diesen Krieg offen verurteilen, wäre das ganz sicher die falsche Entscheidung."
Das bekräftigt Matthias Naske, Intendant des Wiener Konzerthauses, in dem das Paar Netrebko Eyvazov derzeit unwiderrufen angekündigt ist: "Das Konzerthaus steht für die Prinzipien von Demokratie und Pluralismus auf dem Fundament zivilgesellschaftlichen Engagements. Es setzt sich als Veranstalter für eine differenzierte Haltung gegenüber allen Musikern ein und schätzt die herausragenden Leistungen aller Künstler. Wir werden daher nicht Künstler allein aufgrund ihres Reisepasses oder ihrer ethnischen Zugehörigkeit diskriminieren, sondern wie bisher im Einzelfall beurteilen, ob die politische Haltung des jeweiligen Künstlers mit dem Selbstverständnis dieses Hauses im Einklang steht oder nicht." Zusatz: "Unsere Solidarität gilt dabei den Menschen in der Ukraine, deren Leben und Zukunft unmittelbar bedroht sind."
Und wann wird es endlich wieder um die Kunst gehen?
Dieser Beitrag ist urpsrünglich in der News-Printausgabe Nr. 9/2022 erschienen.