"Politik muss nicht wie aus dem Lehrbuch sein"

Die Schwestern Barbara und Sophia Neßler sind beide politisch bei den Grünen aktiv, obwohl sie aus einer ÖVP-Familie stammen. Im Interview erzählen sie, warum es lehrreich ist, in einem Wirtshaus auf dem Land aufzuwachsen, was Junge von der Art und Weise halten, wie in Österreich Politik gemacht wird, und wie sie mit dem Hass umgehen, der jungen Politikerinnen vor allem im Internet oft entgegenschlägt.

von Die Schwestern Barbara und Sophia Neßler sind beide politisch bei den Grünen aktiv. © Bild: News/Matt Observe

Zwei junge Frauen aus traditioneller ÖVP-Familie vom Land engagieren sich politisch bei den Grünen: Die Schwestern Barbara und Sophia Neßler, 33 und 25 Jahre alt, sind so etwas wie der personifizierte Albtraum von ÖVP-Klubobmann August Wöginger, der einst davor gewarnt hatte, dass "unsere Kinder nach Wean fahren und als Grüne zurückkommen".

Im Falle der Neßler-Schwestern war es Innsbruck, wo sie politisch sozialisiert wurden. Barbara, die ältere Schwester, startete ihre politische Laufbahn bei der GRAS, zog 2018 in den Innsbrucker Gemeinderat ein und kandidierte 2019 als Tiroler Spitzenkandidatin der Grünen bei der Nationalratswahl. Sophia Neßler ist seit 2023 Vorsitzende der ÖH Innsbruck.

Aufgewachsen sind die Schwestern in Vorarlberg, wo ihre Eltern ein Wirtshaus führen. So ein Wirtshaus sei die beste politische Schule, sagt Barbara Neßler. "Man lernt dabei eines, was oft unterschätzt wird in der Politik, das Zuhören." Wenn sie zu Hause in Müselbach sind, helfen sie immer noch im elterlichen Betrieb mit. Barbara im Service, Sophia in der Küche. Die Eltern sind mittlerweile nicht mehr bei der ÖVP. "Einerseits, weil die Partei unter Sebastian Kurz den christlich-sozialen Weg verlassen hat, und wegen der ganzen Korruptionsfälle. Das letzte Stück habe dann ich beigetragen, glaube ich", sagt Barbara Neßler.

Was bekommt man als Grüne im Wirtshaus so zu hören?
Barbara Neßler: Nichts Negatives in unsere Richtung, im Dorf kennt man sich natürlich gut. Aber so klassische Stammtischparolen kommen schon. Falschnachrichten von der FPÖ werden zum Teil einfach übernommen. Der Ton wird rauer. Ich merke, dass wir politische Prozesse viel besser erklären müssen. Die Probleme sind oft zu komplex für einfache Lösungen. Wenn man mit den Leuten redet, setzt auch langsam ein Nachdenken ein.

Spüren Sie auch Vorbehalte gegen die Grünen?
Sophia Neßler: Ja. Es gibt viele Vorurteile, oder einfach Unwissen. Und in der Regierung ist es natürlich schwierig: Wenn etwas nicht ganz so gut funktioniert oder umgesetzt wird, kommt sofort Kritik. Und, das muss man auch sehen, es ist mit der ÖVP nicht immer einfach in dieser Koalition.

Man weiß aus Umfragen, dass Klimaschutz vielen Menschen wichtig ist. Warum schaffen es die Grünen nicht, das in Umfrageergebnisse zu übersetzen?
Sophia: Es ist schwierig, weil die einen wirklich Klimaschutz wollen und vielleicht enttäuscht sind, dass noch nicht so viel umgesetzt worden ist, wie sie gern hätten. Und andererseits gibt es Personen, die immer noch leugnen, dass es eine Klimakrise gibt, obwohl wir mittendrin sind.

Barbara: Die ganzen Krisen gehen nicht spurlos an uns vorbei. Auch viele junge Menschen erzählen mir, dass sie sich extrem erschöpft fühlen. Dass sie die Bedrohung durch die Klimakrise stark wahrnehmen. Aber, man sieht das auch bei vielen Jugendstudien, viele junge Menschen haben wieder eine Tendenz hin zur Gemeinschaft. Sie lassen sich nicht unterkriegen, bleiben trotzdem optimistisch. Das finde ich schön.

Sophia Neßler
© News/Matt Observe Sophia
Barbara Neßler
© News/Matt Observe Barbara Neßler

Der Weg in die Politik verlief für die beiden Neßler-Schwestern unterschiedlich. Für Barbara war eine lebensbedrohliche Erkrankung ausschlaggebend: "Ich habe mir damals selbst versprochen, in meinem Leben etwas zu machen, was möglichst vielen Menschen hilft." Sophia prägte die Erfahrung sozialer Ungleichheit in einer katholischen Privatschule. Beide sind heute politisch mit den Anliegen junger Menschen befasst: Barbara als Kinder- und Jugend-Sprecherin der Grünen im Parlament, Sophia als ÖH-Vorsitzende in Innsbruck.

Wie schauen die Jungen auf die Politik, die in Österreich gemacht wird?
Sophia: Das ist sehr unterschiedlich. Manche sind wirklich getrieben von der Angst, sich das Leben nicht leisten zu können, und haben nicht das beste Bild von der Politik. Und wenn man an all die Korruptionsfälle denkt, können manche Politik einfach nicht mehr ernst nehmen. Dann gibt es wieder andere, die sich stark machen und etwas verändern wollen.

Barbara: Mir hat einmal eine junge Frau bei einer Parlamentsführung erklärt, dass sie sich eigentlich nicht für Politik interessiert. Weil die Politikerinnen und Politiker nie über die Dinge reden, die sie interessieren oder betreffen. Deswegen versuchen wir auch, über Themen wie Körperkultur von jungen Frauen in den sozialen Netzwerken zu sprechen. Diese Themen liegen oft unter dem Radar, sind aber extrem wichtig, weil es uns nicht egal sein kann, was junge Frauen beschäftigt.

Kommen die Anliegen Junger generell zu kurz?
Barbara: Zum Teil sicher. Es wäre extrem wichtig, beim Thema psychische Gesundheit weiterzukommen, Psychotherapie auf Krankenschein. Ganz am Anfang meiner Zeit im Nationalrat, als ich begonnen habe, mich für Kinderrechte einzusetzen, hat jemand gesagt: Barbara, du wirst nicht weit kommen, weil Kinder nicht wählen können. Aber ich finde, eine Tür sollte man in der Politik nie öffnen, nämlich Stimmenmaximierung über den eigenen moralischen Kompass zu stellen. Das ist ein zu hoher Preis, den man zahlt.

Haben die etablierten Parteien – und dazu zähle ich auch die Grünen – verlernt, für Junge anschlussfähig zu sein?
Barbara: Lena Schilling hat einmal gesagt, dass sie anfangs gar nicht wusste, wen sie überhaupt adressieren muss oder an wen sich ihre Kritik eigentlich richtet. Die politischen Prozesse sind zum Teil sehr komplex und schwerfällig, vieles geht mir selbst oft zu langsam. Es ist also eine Frage der politischen Bildung, besser zu erklären, wie das Ganze funktioniert. Und: Man muss als Politikerin oder Politiker dorthin gehen, wo die jungen Leute sind, in die sozialen Netzwerke. Ich mache das, und bekomme viel positives Feedback.

Dominik Wlaznys Bierpartei kommt in Umfragen auf acht Prozent – gleich viel wie die Grünen –, ohne eine einzige inhaltliche Ansage gemacht zu haben. Was sagt Ihnen das?
Sophia: Neu reinstarten ist immer einfacher, als sich halten zu müssen. Deswegen kommen solche Personen so gut an. Sie wirken authentisch, weil sie neu sind, und machen Hoffnung. Es gibt keine Vorbelastung, keine alten Enttäuschungen.

Barbara: Als Politiker oder Politikerin bist du halt per se nicht cool. Mein Bild von Politik war früher auch, das sind irgendwelche älteren Herrschaften im Anzug, die sich im Hinterzimmer etwas ausmachen. Nicht sehr lässig, nicht sehr cool, anders als die Bierpartei. Es ist nur wichtig, dass wir nicht dahin kommen, dass wir Politik mit Entertainment verwechseln.

Hat sich dieses Bild – alte weiße Männer im Hinterzimmer – bewahrheitet, als Sie in die Politik gegangen sind?
Barbara: Gott sei Dank nicht. Aber natürlich sind die Politik und die Parteienlandschaft sehr männlich dominiert. Es gibt einfach zu wenig weibliche Vorbilder.

Barbara Neßler tritt bei der Nationalratswahl auf dem ersten Platz der Tiroler Landesliste an, Sophia Neßler kandidiert bei der Innsbrucker Gemeinderatswahl, die am 14. April stattfindet. Auch mit dem Anliegen, jungen Menschen – vor allem jungen Frauen – mehr Gehör und Sichtbarkeit zu verschaffen. "Es wichtig, dass sich junge Frauen engagieren und zeigen, dass Politik anders sein kann," sagt Sophia Neßler. "Politik muss nicht männlich sein, Politik muss nicht konservativ sein. Politik muss nicht wie aus dem Lehrbuch sein."

Zuletzt wurde wieder verstärkt über das Gendern diskutiert. Wie geht es Ihnen als jungen Frauen damit?
Sophia: Es ist absurd. Sprache ist im Wandel, immer schon, seitdem es Sprache gibt. Wir sollten lieber darauf fokussieren, was die Menschen brauchen, und zum Beispiel über die Mehrfachbelastung von Frauen reden, über Kinderbetreuung und schlechte Bezahlung. Oder darüber, dass man Frauen nie lobt, wenn sie Job und Kinder unter einen Hut bringen, aber wenn ein Mann das macht, sagen alle, wow, was für ein toller Vater.

Barbara: Ich möchte 2024 nicht einmal anfangen, darüber zu diskutieren, warum Gendern wichtig ist. Aber wenn es nach wie vor Parteien gibt, die denken, es ist wichtiger, über so etwas zu diskutieren, als darauf zu schauen, dass man Frauen nicht im Stich lässt, dann sollten sie ihre frauenpolitische Agenda ganz dringend überdenken.

Frauen werden mit Drohungen und Beschimpfungen aus dem öffentlichen Diskurs verdrängt. Wie gehen Sie mit dem Problem Hass im Netz um?
Barbara: Mittlerweile kann ich das gut. Es gibt Tage, an denen ich mich kurz ärgere. Aber grundsätzlich sind mir die Hasskommentare ziemlich wurscht. Darum zeige ich das auch auf Instagram auf, in der Reihe "Anekdoten von Idioten". Ich würde alle dazu ermutigen, solche Kommentare zu melden oder anzuzeigen.

Sophia: Ich hadere noch damit. Ich komme mit Beleidigungen oder Angriffen nicht so gut klar. Wenn ich als Faschistin beschimpft werde, nur weil ich jetzt bei den Grünen bin, oder sonst irgendwelche Beleidigungen, das geht schon nahe. Man muss sich überlegen, ob man sich das als junge Person wirklich antun will. Als Frau trifft es einen natürlich noch härter, weil man ja schon ein Leben lang erlebt hat, dass die eigene Kompetenz infrage gestellt wird, und dass man auf seinen Körper reduziert wird.

Barbara: Als Frau wirst du ständig bewertet und kannst es niemandem recht machen. Machst du Karriere? Machst du keine Karriere? Kriegst du Kinder? Kriegst du keine Kinder? Als Mama kannst du es sowieso niemandem recht machen und alle wissen alles besser. Deswegen sage ich immer, wenn du es eh keinem recht machen kannst, versuch es gar nicht, sondern geh deinen eigenen Weg. 

Dieser Beitrag erschien ursprünglich in der News-Printausgabe Nr. 15/2024.